Ein sich kontinuierlich erweiterndes  Mapping des Stuttgarter Nordbahnhofviertels

Einwahlknoten Galgenbuckel

Vor genau 10 Jahren, am 4. Februar 2013, dem 275. Todestag von Joseph Süß Oppenheimer, haben wir den Ort, an dem dieser als Opfer eines Justizmordes 1738 hingerichtet wurde, unter Beteiligung vieler anderer KünstlerInnen zum ersten Mal öffentlich markiert. Der aus dem Stadtgedächtnis gelöschte „Galgenbuckel“, auf dem sich heute ein Mitte der 1950er Jahre für Eisenbahnerfamilien erbautes Hochhausquartett mit einem zentral gelegenen Waschhaus samt Heißmangelstube befindet, bildete von Anfang an das topographische Zentrum für eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem im Zuge von Stuttgart 21 sich radikal verändernden Stadtteil. In zehn Jahren, so viel steht fest, wird das Nordbahnhofviertel ein ganz anderes sein.

Um diesem Anliegen eine breitere Basis zu verschaffen und den Transformationsprozess stetig begleiten zu können, haben wir nun diese Website eingerichtet. Auf einer interaktiven Karte sind dort all jene Orte verzeichnet und auf verschiedene Weise kommentiert, die uns für ein tieferes Verständnis dieses im Umbruch befindlichen Stadtteils als relevant erschienen. Weitere werden - nach Lage der Dinge hinzukommen. Im „Archiv“ sind alle bisherigen Aktivitäten dokumentiert.

Das Ganze versteht sich als ein Work in Progress, sowohl hinsichtlich der Einarbeitung neuer Fakten wie auch der jeweils verwendeten Stilmittel. Kooperationen mit anderen an dem Thema Interessierten sind fester Teil des Plans. Überraschungen willkommen.
Das Balkonstellwerk
Von ihrem Logenplatz aus genießen zwei Zehnjährige den Zusammenfall von Phantasie und Wirklichkeit
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Wiewohl mein Vater der einzige Nichteisenbahner im Haus war, besaß er doch als einer der wenigen eine Modelleisenbahn, die wegen Platzmangels allerdings nur zu Weihnachten aufgebaut werden konnte. Während diese Anlagen anfangs noch eine heile Bergwelt vorspiegelten, dominierten auf ihr allmählich die Katastropheninszenierungen: entgleisende und vom Bahndamm herunterstürzende Zuge, die von meinem Vater fotografisch festgehalten wurden, bisweilen senkrecht von oben; möglicherweise eine Reminiszenz an seine damals noch gar nicht so lange zurückliegende Funktion als Zerstörer und Aufklärer bei der Luftwaffe. Aus unerfindlichen Gründen wollte er die Eisenbahn jedoch Anfang der sechziger Jahre nicht mehr aufbauen und betrachtete sie nun allabendlich im Abstellraum der Dreizimmerwohnung in ihrem verpackten Zustand wie eine Reliquiensammlung. Wir Kinder fanden das natürlich blöd. Doch eines Tages kamen mein im neunten Stockwerk bahnseits wohnender Schulfreund und ich auf eine geniale Idee, wie man sie vielleicht nur einmal im Leben hat: Warum erst eine Modelleisenbahnanlage aufbauen, wenn man eine solche praktisch direkt vor der Haustür hat! Man müsse nur den richtigen Abstand dazu gewinnen. Wir holten uns also heimlich einige Trafos und Weichenstellpulte aus dem Depot meines Vaters, nagelten alles auf ein Brett und stellten uns auf den bereits erwähnten Balkon, mit freiem Blick auf eine sich mehrfach durchkreuzende und untertunnelnde Gleislandschaft, deren Faszination nicht wenig damit zu tun hat, dass sie nichts beschönigt. In kurzer Zeit gelang es uns, den Bahnverkehr da unten als ein von uns da oben bewirktes Geschehen zu empfinden. Das Gefühl, mit der Hand am Trafo den tatsächlichen Geschehnissen nicht etwa nur zu folgen, sondern ihnen voraus zu sein und sie zu lenken, bedurfte lediglich einer kleinen Verschiebung der Selbstwahrnehmung. Die Verwechslung von Ursache und Wirkung ist einfacher, als man denkt, sie lässt sich üben. Pathologisch wird die Sache nur dann, wenn man aus diesem Spiel nicht mehr aussteigen kann und tatsächlich glaubt, die Wirklichkeit sei eine Modelleisenbahn. Allmachtsfantasien entstehen bekanntlich umso leichter, je weiter weg man sich vom eigentlichen Geschehen befindet. Mein Vater berichtete des Öfteren, wie sich von der Flugzeugkanzel aus die Welt in 'eine Art Spielzeugwelt’ verwandelt hatte, in die hineinzubomben weit weniger Überwindung kostete, als etwa im Nahkampf mit dem Spaten einen feindlichen Schädel zu spalten. Der Blick von oben führt deshalb nicht selten zu berauschenden und gleichzeitig abstrakten Gefühlen.
Bleigießen
Am Silvesterabend des Jahres 1965 zog sich mein Vater dorthin zurück, wo er sich in letzter Zeit nach getaner Arbeit innerhalb unserer kleinen Dreizimmerwohnung am wohlsten fühlte. Es handelte sich um einen etwa dreieinhalb Quadratmeter großen, fensterlosen Abstellraum, eigentlich gedacht für die Unterbringung von Haushaltsutensilien aller Art. Mein Vater hatte den Raum jedoch in einen als Werkstatt getarnten Rückzugsraum verwandelt: In einem offenen schrankartigen Gebilde war eine Werkbank samt Bohrständer eingebaut, in Griffnähe hingen die unterschiedlichsten Werkzeuge, eine komplette Heimwerkerausrüstung. Der obere Teil des Schrankgebildes barg, in Pappschachteln verpackt, das komplette Material seiner Modelleisenbahn: Lokomotiven, Waggons, Schienen, Bäume, Gebäude samt elektrischem Zubehör. Anfang der 1960er Jahre hatte er sich aus unerfindlichen Gründen entschlossen, diese Modelleisenbahn nicht mehr aufzubauen, sondern nur noch in diesem gelagerten Zustand zu genießen. Als Sitzgelegenheit diente ein ausgedienter Bürodrehstuhl aus Holz. Neben der praktisch nie genutzten Werkbank befand sich auf dem Boden ein der Grundversorgung dienender Kasten Bier, auf einem kleinen Beistelltisch ein Drehaschenbecher mit einer Ummantelung aus Krokoimitat. Genau gegenüber der Tür hing an der Wand ein Kugelfang aus grünem Metall mit eingesteckter Pappzielscheibe. Der einzige Schuss auf dieses elegant wirkende Zielgebilde war von der Küche aus durch den Flur und die geöffneten Türen hindurch mit einem beim Versandhaus Neckermann bestellten Kleinkalibergewehr abgegeben worden. Eine größere Distanz hatte unsere Wohnung nicht aufzuweisen. Um das Bleiprojektil 'geschmeidig' zu halten und den Gewehrlauf vor 'Verbleiung' zu schützen, wurden die noch in ihrer Originalverpackung befindlichen restlichen 499 Patronen von meinem Vater nach und nach entnommen und mit einem kleinen Pinsel eingefettet. Diese angesichts mangelnder Einsatzmöglichkeiten an sich sinnlose Wartungsarbeit gehört zu dem Wenigen, was meiner Erinnerung nach in dieser Werkstatt je stattgefunden hat.
Einen besonderen Grund, sich zu bewaffnen, gab es eigentlich nicht. Die Nachbarn waren freundlich und Ratten Mangelware. Und der Krieg, den mein Vater vor allem von oben herab erlebt hatte, war seit 20 Jahren vorbei. Die bleihaltige Luft hatte sich verzogen, was jedoch durch den zunehmenden Autoverkehr und Hollywood-Western einigermaßen wettgemacht wurde.
Allerdings konnte der Blick durch das Zielfernrohr vom Wohnzimmerfenster aus die Außenwelt durchaus in einem feindlichen Licht erscheinen lassen. Ist etwas erstmal ins Fadenkreuz gerutscht, beginnt sich der Zeigefinger am Abzugshebel automatisch zu krümmen. Jede Waffe erzeugt ihren je eigenen, ihrer Zweckbestimmung entsprechenden Handlungsdruck, der vermutlich auch in Form von Sport nicht restlos abgebaut werden kann. Ein Waffenschein war zu jener Zeit für Kleinkalibriges noch nicht erforderlich. Die Waffe selbst wurde in einer in Jägergrün gehaltenen Transporttasche im Schlafzimmerschrank aufbewahrt, als sei das ihr natürlichster Ort. Nach dem Tod meines Vaters wurde das Gewehr von einem Verwandten übernommen, der sein Einfamilienhaus auf dem Land tatsächlich von Ratten umzingelt sah.
Durch exzessiven Zigarettenkonsum (Reval, filterlos) wies dieser abendliche Rückzugsort natürlich eine in hohem Maß toxische Atmosphäre auf. Nur ein kleines aus der Wand herausragendes, an den Lauf einer Schrotflinte erinnerndes Abzugsrohr vermittelte diesen Raum über einen Abzugsschacht mit der Außenwelt. Wir Kinder hielten oft unser Ohr an das Rohrende, weil dort die seltsamsten Geräusche zu vernehmen waren, offenbar Lebensgeräusche der anderen zwölf über uns liegenden Stockwerke.
An jenem Silvesterabend beschäftigte sich mein Vater jedoch mit etwas, das als geselliges Familienereignis eine lange Tradition hat, in diesem Fall aber zu einer Art Ein-Mann-Performance geriet. Bei geöffneter Tür zum Abstellraum wurden wir Zeuge eines Vorgangs, der vielleicht nur deshalb in meiner Erinnerung verblieben ist, weil Bleigießen in unserer Familie ansonsten nie praktiziert wurde und die Begleitumstände keinen Zweifel daran ließen, dass hier etwas Bedeutsames vor sich gehen solle, als würde das Geheimnis um diese innerfamiliäre Einzelzelle nun ein für alle Mal gelüftet werden.
Über einem kleinen Brenner zum Warmhalten von Speisen hielt mein Vater einen großen Schöpflöffel, in dem er biegsame Bleistangen zum Schmelzen brachte, um dann den gesamten Inhalt auf einmal in einen bereitstehenden Topf mit kaltem Wasser zu kippen. Heraus kam ein Gebilde, bei dem etwas Kopfartiges in einen bizarr ausgefransten, jedoch mit Beinen ausgestatteten Körper zurückzusinken droht. Dem großen, unten hängenden Bleitropfen, der beim Hineinschießen der metallischen Flüssigkeit ins Kalte als erstes erstarrte, folgte ein dünnerer Nachfluss, der zu keinen klaren Formen mehr führen konnte.

Das Zufällige dieses sich der Wahrnehmung vollkommen entziehenden Entstehungsprozesses bleibt für immer in der Form aufgespeichert. Es sei denn, diese Kleinskulptur würde erneut eingeschmolzen und noch einmal ins Wasser geschickt. Stellt man sich eine Maschine vor, die in der Lage wäre, diesen Vorgang immer aufs Neue zu wiederholen, würde eine im Prinzip unendliche Reihe zeitlich befristeter Skulpturen entstehen, von denen keine der anderen gliche. Die fortwährende Reproduktion des ursprünglichen Schöpfungsaktes, der in diesem Fall aus einer simplen Kippbewegung besteht, würde vermutlich unendliche Langeweile erzeugen. - Womöglich aus dieser Ahnung heraus machte mein Vater nur diesen einen Versuch.
Alles auf eine Karte zu setzen, sei manchmal die einzige Überlebenschance, erklärte er einmal im Zusammenhang mit der Schilderung eines gewagten Messerflugs durch eine Fesselballonsperre an der englischen Kanalküste, bei dem nur durch das Kippen des Flugzeuges in die Senkrechte das Abreißen der Flügel durch die an den Ballons aufgehängten Stahlseile verhindert werden konnte. Über die Ballons hinwegzufliegen sei keine Option gewesen, da die feindliche Flak genau auf diese Höhe eingestellt gewesen sei. Flugzeuge, die das versucht hätten, seien heruntergeschossen worden wie Enten. Gegen den anschließenden Beschuss von hinten habe ihn eine hinter dem Pilotensitz angebrachte Bleiplatte geschützt. Da sei, Gott sei Dank, einiges steckengeblieben, was eigentlich seinem Kopf gegolten hätte.
An eine Deutung dieses kopfbestimmten Zufallsprodukts kann ich mich nicht erinnern. Wohl aber an den Stolz meines Vaters über das doch recht menschenähnliche Resultat seines silvesterlichen Ausnahmezustandes.
Ich besitze diese etwa 7 cm große und genau 46 Gramm schwere Figur noch heute. Da mein Vater wenige Monate nach dieser Performance ganz plötzlich verstarb und ich damals erst 12 Jahre alt war, musste ich die Sache zwangsläufig überinterpretieren und als eine Art Vermächtnis begreifen. Da saß also jemand, ein gelernter Koch, am Abend eines auslaufenden Jahres in seiner Ein-Mann-Zelle und verwandelte vor den Augen seiner Familie etwas Heißes und Flüssiges auf einen Schlag in etwas Kaltes und Starres. Als hätte er uns zu verstehen geben wollen, dass man sich den Übergang vom Leben zum Tod, das Aushauchen der Seele, als etwas zischend Verglühendes vorzustellen habe. Nicht in dieses Bild passt allerdings die Tatsache, dass der in diesem Erlöschen entstandene Körper womöglich für immer fortexistieren könnte, während das Leben aus ihm doch unwiederbringlich verdampft ist. Bleigeschwängerte Luft ist nicht das, was man für gewöhnlich mit dem Aufenthaltsort von Seelen verbinden würde, wiewohl Kriegsteilnehmern sich diese Assoziation unweigerlich aufdrängen musste.
Von dieser Bleigussfigur gingen im Lauf der Jahre immer neue Fragen, Gedanken und Assoziationen aus. Aus ihrer Schatulle genommen und auf einen Schaumgummiboden gesetzt, erinnerte sie mich kurz nach der ersten Mondlandung an einen im Weltraum schwebenden Astronauten, der durch einen Betriebsunfall schlagartig vom Vakuum erfasst wurde und buchstäblich in seinen Raumanzug hineinexplodierte, wobei der Kopf oder der Helm noch am meisten seine Form bewahrte; zunehmend aber auch an eine für uns vollkommen unverständliche extraterrestrische Lebensform, die sich körperlich immer wieder neu erfinden muss, um in toxischen Räumen überleben zu können.
Die Brandbombe

Die Beseitigung von Kampfmitteln erfordert ein beinahe übermenschliches Maß an Geduld und Selbstkontrolle
Das friedliche Gegenstück zum Kriegspiel hieß 'Mutterles und Vaterles'. Hier ging es darum, sich in irgendwelchen Ecken der Ruine ein 'Lägerle' einzurichten und Familie zu spielen. Ich erinnere mich noch, wie ich von den dabei beteiligten Mädchen dazu aufgefordert wurde, zur Verhübschung des von einem Teppich von der Außenwelt abgeschotteten Wohnzimmers eine Vase herbeizuschaffen. Die vor Ort gepflückten Blumen lagen schon bereit. Am anderen Ende der Ruine fiel mir etwas im Boden steckendes Längliches auf, das eine runde Öffnung hatte und als Vase hätte genutzt werden können. Als ich das rostige Ding mit viel Mühe aus dem Schutt herausgezogen hatte, zeigte es sich als seltsames, spitz zulaufendes und unten mit einer Art Becher versehenes Gebilde. Während ich noch rätselte, um was es sich hier handelte, rief eine Frau aus dem Fenster des der Ruine genau gegenüberliegenden Wohnhauses, ich solle mich um Gottes willen nicht bewegen, das sei eine Bombe, sie werde sofort das Polizeirevier benachrichtigen. Ich geriet in eine Art Schockstarre. Weglaufen war keine Option, wenn schon die kleinste Bewegung eine Explosion auslösen konnte. Die Bombe, oder was immer das war, hatte ich waagrecht in den Ellenbogenbeugen abgelegt und getraute mich kaum zu atmen. Die Vorstellung, im nächsten Moment in einem einzigen Lichtblitz vom Erdboden zu verschwinden, war so unfassbar, dass sie wie ein Leerbild im Raum stand und zu einer gesteigerten Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung führte. Eine Kreuzspinne – und vor nichts ekelte es mich mehr - krabbelte meinen nackten Oberkörper hoch. Da ich die Bombe nicht absetzen konnte, versuchte ich, das Ekelding wegzupusten, was mir nach mehreren Versuchen auch gelang. An den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses hatten sich inzwischen noch andere Bewohner eingefunden, um das Geschehen bzw. das Nicht-Geschehen zu verfolgen, was ich einigermaßen seltsam fand, denn eine drohende Detonation hätte sie eigentlich dazu veranlassen müssen, sich ins Innere ihrer Wohnungen zurückzuziehen oder gar das Haus zum Hinterhof hin zu verlassen. Doch offenbar wähnten sich diese Bewohner vor diesem relativ kleinen Objekt in Sicherheit. Einige von ihnen mussten ja noch die Zerstörung des ihnen gegenüberliegenden Viertels erlebt haben und hätten erkennen müssen, dass ein echter Blindgänger ganz andere Ausmaße hat als dieses doch recht überschaubare Gebilde. Nach einer sich ins Unendliche dehnenden Viertelstunde kam schließlich ein Polizist an den Ruinenrand und rief mir zu, ich könne das Ding ruhig fallen lassen, das sei nur eine Brandbombe, die ihren Inhalt – das Phosphor - längst aus sich entlassen habe. Ich setzte das Ding dennoch so vorsichtig wie möglich ab. Es wurde anschließend abtransportiert. An einen Applaus der Anwohner und der hinzugekommenen Passanten kann ich mich nicht erinnern, er wäre aber durchaus möglich gewesen. In dem Maße, wie sich diese Leute in Schaulustige verwandelten, wurde ich zu deren Hauptdarsteller. Natürlich erfüllte mich diese Rolle auch mit Stolz. Die Mädchen, die mich mit der Vasensuche beauftragt hatten, standen geduckt hinter einem Mäuerchen und blickten hin und wieder in meine Richtung. Auch so, dachte ich später, können 15 Minuten Ruhm aussehen. Im Mittelpunkt zu stehen hat eine helle und eine dunkle Seite. Die helle Seite bedeutet Ruhm und Ehre, die dunkle handelt vom Tod. Und vielleicht sind das ja die beiden Seiten derselben Medaille. Eine Explosion hätte mich unauslöschlich ins Gedächtnis der Nachwelt eingeschrieben. So aber musste das Ganze auf eine Anekdote zusammenschrumpfen, die im Wesentlichen auf ein Missverständnis zurückgeht, was aber für mich, den Protagonisten, während meiner Erstarrung ohne jeden Belang war. – Am Schauplatz dieses Geschehens steht heute das 'Hilde und Eugen Krempel Männerwohnheim'.
Das Modell Wolfgang Frey
In 160facher Verkleinerung wird klar, dass Stuttgart ein geheimes Zentrum hat
Direkt gegenüber dem Hauptbahnhof befindet sich unter dem Label „MiniaturWelten“ seit April 2022 ein160fach verkleinertes Modell der Stuttgarter Gleislandschaft samt der sie umgebenden Stadtteile. Im Wesentlichen zeigt diese Anlage genau das, was im Zuge des Großprojekts Stuttgart 21 aus dem Stadtbild verschwinden wird: das wie eine Spange das Nordbahnhofviertel umschließende Gleisfeld mit den sich kreuzenden und unterfahrenden Schienensträngen. Visueller Dreh- und Angelpunkt dieser Anlage ist das auf dem Galgenberg stehende Hochhausquartett, in dessen Mitte sich wiederum ein von Bäumen und Sträuchern überwuchertes Waschhaus befindet.
Von 1992  bis zu seinem Tod hatte der Eisenbahnangestellte Wolfgang Frey (1960 – 2012) in einem 450 Quadratmeter großen Zwischengeschoss der S-Bahn-Haltestelle Schwabstraße an dieser einzigartigen, andernorts bereits 1978 begonnenen Modelleisenbahnanlage gebaut, die aufgrund ihrer Originaltreue und Detailversessenheit schon zu seinen Lebzeiten Berühmtheit erlangte, obwohl nur wenige Eingeweihte die Anlage je an ihrem Ursprungsort zu Gesicht bekommen hatten. Die Anlage wurde vom Gleisfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs aus entwickelt und reichte zum Schluss bis nach Bad Cannstatt und zum Westbahnhof. Um diese riesige Anlage steuern zu können, hatte Frey im Vorraum zudem noch in mühevoller Kleinarbeit eine exakte 1:1 – Replik seines Arbeitsplatzes im Stuttgarter Zentralstellwerk erstellt, mit sämtlichen elektronischen Steuerkonsolen und der riesigen Stelltafel. Viele Jahre pendelte er tagtäglich zwischen Arbeitsplatz und „Hobbybunker“ hin und her, bis er sich schließlich fast nur noch in dieser unterirdischen Enklave aufhielt und kaum mehr in der Außenwelt auftauchte.
Obwohl die Modellbahnzeitschrift MIBA in einem Sonderheft 2004 eine große Fotoreportage über Wolfgang Freys Modellbahnwelt mit einem von ihm selbst verfassten Text brachte und auch im Fernsehen mehrfach über die Anlage berichtet wurde, blieb ihr genauer Ort dennoch lange geheim. Die nach dem Tod ihres Erbauers verwaiste Anlage wurde 2017, nachdem die Verhandlungen der Erben mit der Stadt Stuttgart gescheitert waren, von einem Herrenberger Unternehmensberater gekauft und war dort im „Stellwerk-S“ bis Ende 2021 der Öffentlichkeit zugänglich. Aus Platzgründen konnte die Anlage jedoch nicht komplett nach Herrenberg transferiert werden. Einige größere Anlagefragmente mussten in der Schwabstraße verbleiben. Die für den Betrieb der Anlage unverzichtbaren unterirdischen Speicher- oder Schattenbahnhöfe wurden, so weit sie überhaupt fertiggestellt waren, von ihrem Überbau getrennt und als Abfall gewertet. Auch von dem in sich geschlossenen Raumensemble der Stellwerkreplik wurde nur die große, nun aber funktionslose Stelltafel und eine exemplarische Steuerkonsole nach Herrenberg übernommen. Sämtliche Kabel zwischen Stellwerk und Anlage wurden gekappt und zu einem gehirnähnlichen Gebilde aufgetürmt. Offenbar ging niemand davon aus, das alles je wieder in Betrieb zu nehmen.

Auch an ihrem jetzigen Ort im ehemaligen „Hindenburgbau“, ist im Wesentlichen das imposante, neu zusammengesetzte Herzstück der Anlage zu sehen, das nun vollends in den Rang eines Stadtmodells aufgestiegen ist.

Was Frey festhalten wollte, war das eisenbahntechnisch noch vollständige Stuttgart der 1980er Jahre mit noch intaktem Güterbahnhof. Eine Ausnahme bildete das erst später dazugebaute Cannstatter Bahnhofsareal, das mit dem Einkaufszentrum Cannstatter Carré den Zustand der Nullerjahre wiedergibt, also bereits in eine andere Zeit gehört als die des schon zwanzig Jahre zuvor aufgegebenen Güterbahnhofs.

Freys Lebenswerk handelt gleich in doppelter Weise vom Verschwinden: Erstens vom Verschwinden des Autors im eigenen Werk und zweitens vom allmählichen Verschwinden jener verschlungenen Gleislandschaft, die Stuttgarts Physiognomie für ein ganzes Jahrhundert geprägt hat - mag sie nun schön oder hässlich gewesen sein. In wenigen Jahren wird man nur noch an diesem Modell erfahren können, wie Stuttgart ausgesehen oder sich angefühlt hat, als es noch einen voll ausgebildeten Gleiskörper hatte. Frey mag Stuttgart 21 vorausgeahnt haben, als Eisenbahner war es ihm jedoch unmöglich, sich diese Gleislandschaft von der Stadt wegzudenken. In seinem Modell hängt die Stadt wie Fleisch an dem Gerippe der Gleise. Verschwinden diese, verschwindet auch die Stadt - oder jedenfalls das, was für einen Eisenbahner eine Stadt zu einer Stadt macht: ihr nackt daliegendes, sich zum Bahnhof hin aufspreizendes Gleisfeld. Denn nur so wird sichtbar, dass die Stadt mit der übrigen Welt eine feste Verbindung eingegangen ist.
Das Schweigen

Anfang der 60er Jahre fiel mir, die Heilbronner Straße runterkommend, eine Menschenschlange vor dem Nordausgang des Hauptbahnhofs auf. Männer, die mit teils hochgeschlagenem Mantelkragen in der Kälte standen, jeder für sich, auf der Stelle tretend und schweigend. Die Schlange der in ihre grauen Mäntel wie einbetoniert wirkenden Männer führte zum Bali-Kino (Bahnhofslichtspiele) im Inneren der großen Bahnhofshalle. Ich konnte mir diesen Andrang wegen eines Films nicht erklären, insbesondere, dass in dieser Schlange wirklich nur Männer vertreten waren, erfuhr aber dann von einem älteren, sich schon in der Pubertät befindlichen Nachbarjungen, dass hier ein Film gezeigt wurde, der es 'in sich' habe. Da kämen 'echte Sexszenen' vor. So was sei im Kino noch nie gezeigt worden. - Es handelte sich um den Film 'Das Schweigen' von Ingmar Bergman aus dem Jahr 1963. Wider Erwarten war dieser Film hierzulande trotz seiner pornografischen Szenen von der FSK freigegeben und von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden sogar als 'Kunstwerk' eingestuft worden. Es war aber sicher nicht das Bedürfnis nach Kunst, das zu dieser Warteschlange führte. Das einzige andere Mal, wo sich meiner Erinnerung nach eine größere Anzahl von Menschen vor dem Nordausgang des Hauptbahnhofs versammelte, fand fast ein halbes Jahrhundert später statt, beim Abriss des Nordflügels im August 2010. In diesem Fall bestand das Pornografische jedoch in der vollkommenen Ungeniertheit, mit der die Abrissbagger trotz der lautstarken Bürgerproteste ihr Werk fortsetzten. Das Bali-Kino gab es in jenen Jahren längst nicht mehr und inzwischen ist das Bahnhofsgebäude vollends von allen Innereien befreit. Übrig geblieben ist eine Erinnerungsattrappe, durch die man, wenn alles gut geht, schon bald zu den ins Unterirdische verlegten Gleisen kommt. Aufgrund der räumlichen Enge im Bereich der Bahnsteige werden Warteschlangen aller Art zum täglichen Anblick gehören.
Der Ein-Mann-Bunker
Ein Anwohner der Mönchstraße berichtet, dass während der Kriegszeit mitten auf dem Galgenberg ein Ein-Mann-Bunker stand: eine mit Tür und Sehschlitz ausgestattete Betonkapsel, die gerade einer Person Schutz bot. Nach dem Krieg hätten Kinder wie er von diesem Ort aus durch den Sehschlitz hindurch das Geschehen auf dem Gleisfeld verfolgt und dabei das Gefühl gehabt, als vorgeschobene Beobachter in feindliches Gebiet zu blicken. Die Bombardierung des Stuttgarter Hauptbahnhofs mag diesen in seinem Umfeld aufgewachsenen Kindern noch in unmittelbarer Erinnerung gewesen sein. Wenige Jahre danach war daraus offenbar ein Abenteuerstoff geworden. Insbesondere für Jungs. Man spielte wahlweise Krieg oder Cowboy und Indianer oder Räuber und Polente. Auch für uns nach dem Krieg Geborenen war diese Option noch attraktiv, wobei Krieg sich in der Regel auf simuliertes Maschinengewehrgeratter und Handgranatenwürfe mit Kartoffeln beschränkte. In der benachbarten Ruine des ehemaligen Martinsviertel ließ sich zudem ein 'Häuserkampf' inszenieren, mit unterirdischen Verstecken und Munitionsdepots. Auf irgendeine Weise hatte sich dieser Stoff von den Vätern auf die Söhne vererbt. Zuhause aufgeschnappte Erzählfetzen wurden zu nachmittagfüllenden Spielhandlungen zusammengesetzt; der Sinngehalt solcher oft gehörten Wörter wie 'ausgebombt', 'gefallen' oder 'vermisst' blieb dabei so vage wie der Krieg als solcher.
Die Unterhäusler
Oben ist, wer auf andere herabschauen kann. Die Bewohner des Vorkriegs-Wohnblocks an der unteren Nordbahnhofstraße, am Fuße der Hochhäuser, wurden, obwohl ebenfalls Eisenbahnerfamilien, von uns Hochhauskindern die 'Unterhäusler' genannt. Die Tatsache, selbst in einem Neubau zu wohnen, hat uns im doppelten Sinn herabblicken lassen auf diejenigen, die das offenbar noch nicht geschafft haben und noch mit Kohleöfen hantieren mussten. Es gab Pfeil-und-Bogen-Kriege zwischen denen da unten und uns da oben.

In den Hochhäusern selbst sagte die Stockwerkshöhe nichts über den sozialen Rang der Bewohner aus. Es oblag dem Zufall, wer in welcher Höhe wohnte. Auf demselben Stockwerk lebte der Rangierer neben dem Bahnoberinspektor, der Hilfsarbeiter neben dem Ingenieur. Über die Größe der zugeteilten Wohnung entschied allein die Kinderzahl. Diese Enthierarchisierung der sozialen Schichtung innerhalb der einzelnen Hochhäuser konnte, insbesondere unter uns Kindern, nicht verhindern, dass man sich gegenüber 'den anderen', primitiver Wohnenden, für etwas Besseres hielt.
Explosionszeichnung
Das Faszinierende an einer Explosionszeichnung liegt darin, dass ein in der Regel uneinsehbares, aus Funktionsteilen bestehendes technisches Ineinander plötzlich als geordnetes Auseinander ansichtig wird. Die einzelnen Teile, aus denen das Objekt zusammengesetzt ist, sind jetzt so in den Raum gestaffelt oder auseinandergezogen, dass gerade in der Trennung ihr räumlich/funktionaler Zusammenhang erkennbar wird. Das lässt solche Zeichnungen so unüberbietbar zweckmäßig erscheinen. Der ihnen zugrunde liegende Gedanke ließe sich versuchsweise über den Bereich der Objekte hinausdenken. Geschichte als Explosionszeichnung begriffen, hätte den Vorteil, dass es in diesem Bild keine ausgezeichnete Richtung mehr gäbe, in der die Teile auseinanderzufliegen hätten. Die Vorstellung richtungsloser Ausbreitung wäre hier stärker als die eines abgeschossenen und zielgerichteten Pfeils.

Eine Bombe ist eine Waffe, bei der die Selbstzerstörung die notwendige Voraussetzung ihres Wirkens ist. Die Splitter der durch den Explosionsdruck auseinandergerissenen Hülle und sämtlicher anderer Teile streben mit hoher Geschwindigkeit radial vom Explosionsherd weg, bis sie auf ein Hindernis treffen oder der Schwerkraft folgend zu Boden fallen. Insofern gibt die Explosionszeichnung einer Bombe tatsächlich etwas von ihrem Wesen wieder. Filmisch betrachtet handelt es sich um das Standbild einer sich in den Raum ausdehnenden Kugelwolke. Nicht wiederzugeben ist allerdings die Druckwelle, die den Teilchenstrom überholt und die eigentlichen Zerstörungen anrichtet. Der Ereignishorizont einer Bombe reicht gerade so weit wie die letzten zerborstenen Fensterscheiben. Jenseits davon bleibt vorläufig
alles beim alten.
Die Nadel am Horizont
Der Drang nach oben in den 1950er Jahren
Die auf dem Galgenbuckel stehenden vier Conradi-Hochhäuser wuchsen gleichzeitig mit dem Stuttgarter Fernsehturm in die Höhe. Der damalige Drang nach oben konnte natürlich Stuttgarts klimatisch ungünstige Kessellage nicht vergessen machen. Von den Dachgärten der Hochhäuser aus erschien der Fernsehturm wie eine auf den Kesselrand aufgepflanzter Nadel, die nachts von der Spitze her zu leuchten begann. Von dem rotierenden und schräg nach oben gerichteten Scheinwerferstrahl ging etwas Beruhigendes aus, als würde ein einziger Lichtarm die Stadt vor feindlichen Luftangriffen schützen können, wiewohl der Krieg nun schon einige Jahre vorbei war.
Dieser von dem Bauingenieur Fritz Leonhardt ausgedachte und 1956 eröffnete Turm sollte die im Funkschatten liegenden Bewohner des Stuttgarter Kessels seinerzeit mit Fernsehprogramm versorgen. Statt eines aus Stahlgitterelementen zusammengesetzten und mit Seilen abgespannten Turms entwarf Leonhardt einen frei stehenden Turm aus Stahlbeton mit aufgesetztem, mehrstöckigen Korb, von dessen Aussichtsplattform sowohl der Kessel wie das Umland nach sehenswerten Einzelheiten und atmosphärischen Erscheinungen abgesucht werden konnte. Der Begriff Fernsehen wurde so auf die Spitze getrieben, und das anfangs als Fremdkörper empfundene Gebilde entwickelte sich rasch zu einem beliebten Ausflugsziel für Jung und Alt. Ein von höchster Höhe in die Ferne schweifender Blick bedeutet Horizonterweiterung auf höchstem Niveau. Irgendwo hinter der Schwäbischen Alb liegt Rimini und die im Waldboden steckende Betonnadel fühlt sich an wie der Mittelpunkt der Welt.
Der samt oben aufsitzender Antennenanlage 217 Meter hohe Turm ist nicht nur der erste seiner Art, sondern wohl auch der schönste. Wie kein anderes Gebäude verkörpert dieses Urbild aller Fernsehtürme den Aufbruchsgeist der Nachkriegsmoderne und steht neuerdings auf der Nominierungsliste für das UNESCO-Weltkulturerbe. Neben der Weißenhofsiedlung wäre dieser Turm damit das zweite, was Stuttgart offiziell zum Menschheitserbe beizutragen hat. Betrachtet man das Wahrzeichen der Stadt vom Kessel aus, also von tief unten, wird offenbar, dass seine Funktion niemals eine bloß technische war. In seiner absoluten Höhenrandlage, die Stadt gleichsam supervisionierend, geht von dem Turm sowohl etwas Beschützendes wie etwas Bedrohliches aus.
Insbesondere der nächtlich kreisende Scheinwerferstrahl konnte sensiblere Gemüter gut ein Jahrzehnt nach dem Krieg noch an einen Wachturm erinnern. So etwa in Ottomar Domnicks Film 'Jonas' von 1957, in dem der Protagonist von seinen Schuldgefühlen – er hatte bei einem Ausbruch aus einem nicht näher definierten Lager seinen Kameraden im Stich gelassen – durch Stuttgarts Straßen getrieben wird und der die Stadt als Drohkulisse erfahrbar macht. 'Die Scheinwerfer suchen immer noch die Schuldigen unter den Menschen' flüstert ihm seine innere Stimme zu, als er mit seiner Freundin auf der Aussichtsplattform des Fernsehturms steht. In der Eingangssequenz dieses Films fährt die Kamera die Balkonfassade von einem der damals noch brandneuen Conradi-Hochhäuser hoch, zur Veranschaulichung des von Hans Magnus Enzensberger eigens für den Film gestifteten Begriffs des 'gerasterten Wohnens'. Wiewohl diese Hochhäuser jeweils mit einem Dachgarten ausgestattet sind, der einen Rundumblick über Stuttgart erlaubt, können sie mit dem, was der Fernsehturm zu bieten hat, natürlich nicht konkurrieren.
Fritz Leonhardt, der bereits erwähnte Erfinder dieses architektonischen Meisterwerks, war in der Nazi-Zeit in zahlreiche zivile und militärische Prestige-Projekte involviert gewesen, so etwa in den Bau der Reichsautobahn oder in die Planung eines neuen Münchner Hauptbahnhofs, der mit einer Kuppel von 245 Meter Durchmesser überkront werden sollte, ein Projekt, das jedoch kriegsbedingt eingestellt wurde. Der elf Jahre nach Kriegsende fertiggestellte Fernsehturm stellt zweifellos den Höhepunkt seines Schaffens dar. Im Gegensatz zu einer real existierenden Autobahnbrücke oder einer bloße Phantasie gebliebenen Kuppel ist dieser die Wolken aufspießen wollende Turm funktional und phantastisch in einem. Er repräsentiert heute allerdings weniger die himmelwärts strebende Kraft einer Utopie als vielmehr das Steckengebliebensein in ihr - oder die Tatsache, dass die Zukunft nun endgültig ins Rentenalter gekommen ist. In wenigen Jahrzehnten, wenn der Autoverkehr längst eingestellt sein wird und wir uns primär auf Datenautobahnen bewegen, wird der Fernsehturm keine Landmarke mehr sein, sondern eine unter dem Stichwort 'Erinnerungen an die Zukunft' subsumierbare, vornehmlich sich selbst feiernde Freiluftskulptur.
Frau mit Pudel
Anfang der 1960er Jahre, wurde ich Zeuge eines dramatischen Ereignisses, bei dem ein wirklicher Pudel und eine wirkliche Frau aus heiterem Himmel für einen schrecklichen Moment im Luftraum für immer voneinander getrennt wurden.
Ich stand auf dem Wohnzimmerbalkon im ersten Stock unseres 13 Stockwerke zählenden Hochhauses, als ich plötzlich, aus den Augenwinkeln heraus, etwas kleines Weißes und kurz danach etwas viel größeres Schwarzes durch die Luft fliegen sah, gefolgt von einem wuchtigen und dumpfen Schlag. Während das weiße, eher kompakte Gebilde einen kleinen, fast eleganten Bogen beschrieb, stürzte das viel größere schwarze mit wehenden Schleiern senkrecht nach unten. Ein erster Erklärungsversuch meiner herbeigerufenen Mutter war, dass die Bewohner der oberen Stockwerke neuerdings womöglich ihrer Christbäume auf diesem direkten Weg entsorgen würden, nachdem der sich in der Mitte der Etagen befindliche Müllschlucker im vorigen Jahr durch eben solche Weihnachtsüberreste total verstopft und daraufhin außer Betrieb genommen worden war.
Doch die Wahrheit war eine andere: Eine schwarz gekleidete Frau hatte sich aus dem obersten Treppenhausfenster gestürzt, und sich vorher noch ihres weißen Pudel entledigt. Während der Körper der Frau unüberhörbar auf den Steinplatten des Vorplatzes aufschlug, was noch jahrelang an einem mitten durch eine der Platten führenden Sprung zu erkennen war, kam der Pudel praktisch lautlos zu Tode und lag wie ein vergessenes Stofftier einige Meter entfernt von der Frau auf einer zu unserem Spielplatz führenden Rasenfläche.
Wie sich nach den ersten polizeilichen Ermittlungen herausstellte, war die Frau den Anwohnern völlig unbekannt und hatte sich dieses Hochhaus offenbar aus rein praktischen Erwägungen ausgesucht. Die Tatsache, dass die Frau von oben bis unten vollkommen schwarz, dazuhin äußerst elegant gekleidet war und überdies noch platinblonde, durch den Aufprall allerdings wild durcheinandergeratene Haare trug, hat nicht wenig dazu beigetragen, die Spekulationen oder die Phantasien über das Motiv dieses Freitods in beinahe filmische Höhen zu treiben, als hätte sich etwas, das man sonst nur von Hollywood kennt, direkt vor unserer Haustüre abgespielt. Als ich viele Jahre später Hitchcocks Meisterwerk 'Vertigo – Aus dem Reich der Toten' von 1958 zu sehen bekam, wurde mir klar, dass der melodramatische Charakter dieses Stoffs noch um ein Vielfaches hätte gesteigert werden können, wenn sich der freie Fall in die Tiefe noch mit dem Tod eines Pudels verbunden hätte.
Auch wenn einige Nachbarn meinten, dass dies alles nicht gerade vor der eigenen Haustüre und vor den Augen der Kinder hätte geschehen müssen, so war man sich doch einig, dass diese massive Störung des häuslichen Friedens gegen die darin zum Ausdruck kommende Verzweiflung nicht aufgerechnet werden sollte. Für eine Generation, die im nicht mal zwanzig Jahre zurückliegenden Krieg noch mit ganz anderen Bildern konfrontiert war, mochte dieser tragische Einzelfall vermutlich sogar etwas Tröstendes gehabt haben.
Den Reaktionen der Erwachsenen konnte ich jedenfalls eine gewisse Hochachtung für das Schicksalhafte oder Tragische dieses Ereignisses entnehmen, spürbar vor allem an der Zurückhaltung, mit der unsere bohrenden Kinderfragen nach dem Wie und Warum diese erweiterten Suizids bedacht wurden, wobei das Schicksal des Pudels uns beinahe noch mehr berührte als das der wohl ihre Gründe habenden Frau.
Aus all diesen Erinnerungsfetzen hat sich im Lauf der Zeit ein wie ein Ufo in der Luft stehendes Gebilde herauskristallisiert, das zwar immer wieder die Gestalt eines Pudels annimmt, ansonsten aber von etwas Fotografierbarem so weit entfernt ist wie alle Geistererscheinungen.
Frau S
Anfang der 70er Jahre passierte ich noch einmal die Stelle, an der einige Jahre zuvor die Queen für einen Moment mein Leben gestreift hatte. Ich wollte zur Apotheke in der Heilbronner Straße, um mit Paral-Puder gegen im Urlaub aufgeschnappte Filzläuse zu kaufen. Die kleinen Dinger hatten sich in der Schamgegend festgesetzt. Dass es sich bei den krustenartigen, höllisch juckenden Stellen überhaupt um etwas Tierisches handelte, hatte ich nach einer Probeentnahme unter meinem Schülermikroskop ziemlich eindeutig feststellen können. Da waren krebsartige Wesen zu erkennen, die mit ihren Beinchen strampelten. Meiner Mutter, der ich den Befund schilderte, wusste Bescheid, Das seien ‘Sackratten‘. Nichts wirklich Schlimmes. Im Krieg hätten die Soldaten tagtäglich gegen diese Plage ankämpfen müssen, obwohl sie immer wieder dagegen eingepudert wurden. Als ich nun an der Heilbronner Straße ankam, stand vor der Apotheke ein Krankenwagen mit Blaulicht. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei. So etwas kommt vor. Irgendjemanden trifft es immer. Erst einige Tage später erfuhr ich, dass es in diesem Fall die Mutter meines direkt neben der Apotheke wohnenden Schulfreundes getroffen hatte. Und zwar unter grässlichen Umständen.

Frau S war, wie wir wussten, hochgradig depressiv veranlagt – meine Mutter hatte hierfür den Ausdruck ‘schwermütig‘ reserviert. Und tatsächlich schien ihr Gesichtsausdruck den Inhalt dieses Wortes fast klischeehaft zu veranschaulichen: dunkel unterlaufene Tränensäcke, nach unten gezogene Mundwinkel, düsterer Blick. Es ging etwas Geisterhaftes von ihr aus, das sich in der viel zu kleinen und engen Wohnung allerdings nicht entfalten zu können schien.

Frau S entstammte dem kleinen Dorf Prevorst in den Löwensteiner Bergen nördlich von Stuttgart, das durch Justinus Kerners Buch ‘Die Seherin von Prevorst‘ zu einiger Berühmtheit gelangte. Von den Bewohnern dieser ‘rauhen Berggegend‘, in die auch meine Mutter hineingeboren wurde, schreibt Kerner, dass sie in besonderem Maße zu ‘Nervenzufällen der früheren Jugend‘ neigten. So zeigte sich in einem Nachbarort ‘schon mehrmals unter den Kindern eine dem Veitstanz ähnliche Krankheit epidemisch, so dass alle Kinder dieses Ortes zugleich von ihr befallen wurden. Wie Magnetische bestimmten auch sie die Minute des Anfalles jedesmal voraus, und waren sie auf den Feldern, wenn die von ihnen vorausgesehene Zeit des Anfalles sich nahte, so eilten sie nach Hause und bewegten sich dann in solchen Paroxysmen, die eine Stunde und länger dauern konnte, taktgemäß wie die geschicktesten Tänzer in den sonderbarsten Stellungen, worauf sie jedesmal wie aus magnetischem Schlaf erwachten und sich des Vorgefallenen nicht mehr erinnern konnten.‘

Mein Schulfreund berichtete, dass seine Mutter an jenem Tag plötzlich das relativ kleine Fenster in der Küche aufriss und sich vor seinen Augen in den zwischen den Häusern befindlichen Lichthof hinunterstürzte. Er habe sie, da zu weit entfernt, nicht mehr davon abhalten können und nur noch ein Stück wehenden schwarzen Stoffs in Erinnerung, ein Bild, das sich fortan als loopartige Sequenz in seine Albträume einschlich. Kann es etwas Schrecklicheres geben, als die eigene Mutter sich auf derart dramatische Weise in den Tod stürzen zu sehen? Oder umgekehrt: Kann eine Mutter ihren Sohn ein schrecklicheres Bild hinterlassen? Was dieser Szene genau vorausging, hatte mir mein Schulfreund nicht näher erläutern können. Seiner Fassungslosigkeit angesichts dieses vor seinen Augen verübten Suizids blieb noch lange in seinem Gesicht eingeschrieben. Ich selbst habe ihn in dann allerdings irgendwann vollkommen aus den Augen verloren. Das einzige, was ich durch eine zufällige Begegnung in Tübingen von ihm noch erfahren hatte, war, dass er Jura studierte. Wegen eines Klassentreffens hatte ich viele Jahre später seine Adresse herausgefunden, aber keine Reaktion auf meine telefonische und briefliche Anfrage erhalten. Auch als ich mehrmals zu seiner Adresse fuhr und unten an der Haustür klingelte, meldete sich niemand. Einmal jedoch gelang es mir durch einen gerade das Haus verlassenden Bewohner ins Innere zu kommen. An der Wohnungstür vergeblich klingelnd, versuchte ich schließlich - leise klopfend und dabei deutlich meinen Namen aussprechend - mich persönlich bei ihm in Erinnerung zu rufen, in der Annahme, dass er zuhause ist, denn ich glaubte nach einiger Zeit des Abwartens ein Räuspern aus dem Inneren der Wohnung zu hören, jedenfalls etwas, das man als Lebenszeichen verstehen konnte, auch wenn daraus keine Kontaktaufnahme resultierte. – In meiner Erinnerung überlagern sich nun der Sturz der mir unbekannten Frau mit Pudel aus dem Treppenhaus unsers Hochhauses mit dem Fenstersturz von Frau S. nur wenige Jahre später.
Freie Tankstelle
Auf einer plattgemachten, lange Zeit als obskurer Treffpunkt gedient habenden Weltkriegsruine hat sich in kürzester Zeit zum Nutzen aller Autofahrer eine Freie Tankstelle ausgebreitet
An der Ecke Nordbahnhof- Friedhofstraße befand sich noch bis Ende der 50er Jahre ein ausgebombtes, mehrstöckiges Haus, in dem, wie es hieß, lange Zeit auch Prostituierte, ja sogar Hausfrauen ihre Dienste anboten, insbesondere den mit Dollars, Zigaretten, Schokolade, Kaugummi gesegneten US-amerikanischen Besatzungssoldaten. Ende der 50er Jahre wurde das Haus abgerissen. Auf der freiwerdenden Fläche, die nur noch durch einige übrig gebliebene Betonplatten an ihre Vergangenheit erinnerte, spielten wir Kinder 'Olympische Spiele', organisiert nach verschiedenen Disziplinen wie Laufwettbewerbe, Weitsprung, Hochsprung und Speerwerfen. Das Kugelstoßen wurde zum Backsteinwerfen umfunktioniert und als Eintrittsgeld verlangten wir kleine Kieselsteine. Nachdem auch die Betonplatten beseitigt und das Gelände eingeebnet wurde, machte sich dort eine ‘Freie Tankstelle‘ der Firma Heinzelmann breit. Der Tankwart, ein ehemaliger Maler, der, wie er behauptete, wegen einer Lösungsmittelallergie seinen Beruf aufgeben musste, saß in einem Glaskasten, der außer einem Schreibtisch noch über einen Vitrinenschrank mit ein paar käuflichen Süßigkeiten und Getränken sowie einer kleinen Sitzecke verfügte. Dort saßen bei einem Bier zumeist obskure Subjekte, die den Tankwart mit ebenso obskuren Geschichten aus dem Milieu der Schrottplätze versorgten. Da sich der Tankwart lieber diese Geschichten anhörte als seiner Arbeit nachzugehen, ließ er gerne Jungs wie mich für sich arbeiten. Er schenkte uns als Arbeitskleidung eine Latzhose, auch blauer Anton genannt, und ließ uns nach einer kleinen Einweisung an die Zapfsäulen, wobei das Super-Benzin noch von Hand gepumpt werden musste. Als Vergütung bekamen wir das Trinkgeld der Kunden. Zum Service gehörte das Scheibenputzen, das Messen des Ölstands und des Reifendrucks, Gegebenenfalls war auch ein Ölwechsel vorzunehmen, wobei das Altöl aus dem Motor einfach nach oben hin abgesaugt wurde. Wenn die Sitzecke nicht besetzt war, konnten dort die Schulaufgaben erledigt werden. Im Winter oder bei Regen war diese Glaszelle jedoch der einzige Ort, um sich aufzuwärmen. Der Tankwart spendierte dann meist eine Afri-Cola oder eine Tüte Kartoffelchips. In solchen Stunden war es unmöglich, den Erzählungen der ebenfalls im Raum herumsitzenden Dauergäste auszuweichen. Sie handelten zumeist in verklausulierter Form von irgendwelchen ‘Geschäften‘ oder bestanden - wohl um von sich selber abzulenken - aus Schimpftiraden gegen ‘arbeitsscheues Gesindel‘, ,‘Penner‘, ‘Gammler‘ ‘Gastarbeiter‘ und allen, die man noch unter sich wähnte. Der Tankwart saß derweil am Schreibtisch und sagte wenig dazu, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass er leicht stotterte und beim Sprechen erst einen gewissen Widerstand zu überwinden hatte. Wenn das Telefon klingelte, hob er nicht sofort ab, sondern ließ drei vier Klingelzeichen lang die Hand über dem Hörer schweben. Es könnte ja der Chef sein, wie er verschmitzt zugab, und dann macht es sich nicht gut, als Arbeitender sofort zur Stelle zu sein. Da er dem damaligen Ski-Ass Toni Sailer zum Verwechseln ähnlich sah, fiel es ihm leicht, in die Rolle des Charmeurs, überzuwechseln, insbesondere wenn entsprechend gut aussehende Frauen aus den Wagen stiegen. Dann stand er plötzlich im Freien, ließ seine blendend weißen Zähne erstrahlen und gab uns aus einigem Abstand mit ein paar minimalistischen Handbewegungen zu verstehen, dass wir die Scheiben besonders gründlich zu putzen hätten oder die Scheinwerfer nicht vergessen sollten, oft begleitet von einem ‘Hopp-hopp‘. Seine Frau, eine hollywoodreife Blondine, die mit einem schicken Ford Taunus 17m öfters mal an der Tankstelle vorbeischaute, trug eine bis zur Autodecke reichende Bienenkorbfrisur. Auf dem Beifahrersitz saß zudem ein weißer Pudel mit rosa Schleife um die Brust, was so gar nicht zu dem Bild einer Tankwartsgattin passen wollte. Später, als ich schon gar nicht mehr dort wohnte, kam mir zu Ohren, der Tankwart sei in den Knast gewandert und habe auch früher schon gesessen. Warum und wieso wusste niemand. Nur, dass er irgendwas mit der Halbwelt zu tun gehabt haben musste, was auf diesem zwischen Bahngleisen, Männerwohnheim und Schrottplätzen gelegenen Areal, das zudem noch immer Galgenbuckel hieß, durchaus plausibel erscheinen konnte. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass es sich hierbei um ein bloßes Gerücht der um ihren Ruf besorgten Eisenbahnergemeinde handelte.
Friseur Weißwurm
Es gibt Orte, an denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Als hätte die Zeit hier eine Kapsel gebildet, in die einzudringen beklemmende Gefühle auslösen konnte. Ein solcher Ort war das Friseurgeschäft Weißwurm an der Wolframstraße, westlich vom Galgenbuckel. Ein Überbleibsel aus der Vorkriegszeit. Draußen hing an einem geschmiedeten Gestell das traditionelle Friseurschild: eine silbrige Schale, in der sich bisweilen die Sonne spiegelte. Der draußen am Fenster angeschriebene Schriftzug Friseursalon sollte vermitteln, dass hier ein Handwerk in besonders edler Form ausgeübt wird, was im Falle körpernaher Dienstleistungen beinahe unverzichtbar ist. - Drinnen war es so dunkel, wie es die Vergangenheit nur sein kann. Drei rot belederte, mit einem Fußhebel höhenverstellbare Friseurstühle standen riesigen Spiegeln gegenüber, auf einer Ablage darunter befanden sich die verschiedensten Utensilien: silberne Zerstäuber mit orangener Gummipumpe, verschiedenfarbige Flacons, silberne Schalen zum Anrichten von Rasierschaum, Rasierpinsel in kleinen Ständern, Rasiermesser mit Horngriffen, diverse Scheren. Von der Decke herunter hing ein Lederband zum Schleifen der Rasiermesser sowie eine elektrische Schermaschine aus schwarzem Bakelit. Herr Weißwurm selbst trug einen silbergrauen, akkurat geschnittenen Schnauzbart. Mit professionellem Schwung warf er einem den Umhang um den Körper und verschloss ihn nach oben hin mit einem kratzigen Band aus Krepp. Mit dem Zerstäuber wurden die Haare befeuchtet, dann zurechtgekämmt, bis schließlich das rhythmische Geklapper der Schere einsetzte. Für den unteren Teil des Haarschopfs wurde allerdings die Schermaschine eingesetzt, was zu einer Zweiteiligkeit der Frisur führte: oben lang, unten stachelig kurz. Dieser ‘Fassonschnitt‘ wurde, wenn er besonders kontrastreich ausfiel, von meiner Mutter ‘Abortdeckel‘ genannt. Ich solle Fassonschnitt sagen, aber mir nicht wieder so einen Abortdeckel schneiden lassen. Doch wie das verhindern? Die Schermaschine lief so schnell über den Hinterkopf, dass zu intervenieren praktisch unmöglich war. Und das Wort ‘Abortdeckel‘ getraute ich mir in Gegenwart dieses Friseurmeisters nicht auszusprechen. Auf dem Nachhauseweg fuhr ich mir mit den Fingern über den Hinterkopf und kam mir fast nackt vor - bloßgestellt, und geschoren wie ein Schaf. Wie konnten so parfümiert riechende Hände eine solche Verunstaltung bewirken? Modern war das zu jener Zeit, Anfang der 60er Jahre, nicht mehr. Was heute wieder als Nazi-Frisur denunziert werden kann, war damals, kurz vor der Ära der Pilzköpfe, in dieser strengen Form einfach nur peinlich. Möglich, dass der kurz vor seiner Rente stehende Herr Weißwurm diesen seinerzeit stilbildenden Schnitt so sehr verinnerlicht hatte, dass er gar nicht anders konnte, als ihn in seiner Vorkriegszelle auf Teufel komm raus weiter zu praktizieren. Nur das Café Dietz, 100 Meter weiter, an der Ecke Wolfram-Heilbronner Straße, verfügte noch über ein ähnlich museumsreifes Interieur. Was kurze Zeit später schon als nostalgisch empfunden worden wäre, wirkte zu jener Zeit einfach nur abgestanden und muffig. Anders als die an der Ecke Martin – Heilbronner Straße eröffnete Eisdiele, die durch ihre runde und flache Form wie ein zufällig gelandetes Ufo wirkte, eine Zeitkapsel, die aus der Zukunft zu kommen schien. Trat man dort ein, erwarteten einen verchromte Barhocker, eine Musikbox, Eisbecher, heiße Würstchen und jede Menge bunter Getränke.
Abstrakte Bilder
Ein Krieg hinterlässt im Gedächtnis Bilder, die entweder allmählich verblassen oder sich bis zur Überdeutlichkeit zu einem traumatischen Gebilde verdichten können.
In einem Anfall gesteigerten Mitteilungsbedürfnisses berichtete mein ansonsten eher schweigsamer Vater am sonntäglichen Mittagstisch von einer Szene, die an Drastik nicht mehr zu überbieten ist. Ein ihm sehr nahestehender Kriegskamerad sei durch den Volltreffer einer russischen Granate an die Betonwand eines Sanitätsbunkers gespritzt worden. Was von ihm übrig geblieben sei, hätte ausgesehen wie ein abstraktes Bild. Um ihn zu beerdigen, hätte man ihn abspachteln müssen. Was genau meinen Vater dazu veranlasste, Frau und Kinder mit einer solchen Grässlichkeit zu konfrontieren, ist nicht so einfach zu erklären. Andere Kriegsteilnehmer haben zeitlebens über das Erlebte geschwiegen, sei es um den Familienfrieden nicht zu stören, sei es um sich selber zu schützen. Hier aber scheint sich, vermutlich unter Alkoholeinfluss, ein Deckel geöffnet zu haben, der uns einen Einblick verschafft in die Abgründe des menschlichen Bilderspeichers.
Von all dem hatten sich bei mir vor allem die noch nie gehörten Ausdrücke ‘abstraktes Bild‘ und ‘abspachteln‘ festgesetzt. Beides musste mit etwas Furchtbarem zu tun haben.
Der Zufall wollte es, dass ich einige Tage später meinen auf demselben Stockwerk wohnenden Freund besuchte. Schon im Flur war mir ein seltsamer Geruch aufgefallen. Danach fragend, bekam ich folgende Antwort: „Ja, das ist Terpentingestank. Mein Vater spachtelt wieder mal an einem abstrakten Bild herum“. Und tatsächlich saß im Wohnzimmer Herr G an einer selbstgebastelten Staffelei und verteilte mit einem kleinen Spachtel verschiedene Farben auf einer dunklen Fläche. Ein abstraktes Bild war also etwas, auf dem nichts Benennbares zu erkennen war. Ein wildes Durch- und Übereinander von Farben. Unweigerlich musste ich dieses Bild mit der Kriegserzählung meines Vaters in Verbindung bringen.
Herr G, etwas jünger als mein Vater, hatte den Krieg ebenfalls mitgemacht, war aber vor allem an den Rückzugsgefechten beteiligt. Wo immer er hinkam, waren die deutschen Truppen auf dem Rückmarsch, so dass sich, wie seine Frau berichtete, bei ihm das Gefühl einschlich, im Leben immer zu spät zu kommen. Nach einer abgebrochenen Buchhändlerlehre und anschließendem Kriegseinsatz heuerte er als Fernfahrer und Monteur bei der Bahn an. In seinen letzten Berufsjahren zeichnete er vorwiegend Gleispläne. Daneben betätigte es sich noch als ‘Kulissenschieber‘ in der ‘Komödie im Marquardt‘. Seine handwerklichen Fähigkeiten waren so außerordentlich, dass es ihm keinerlei Mühe bereitete, alle möglichen Objekte auf perfekte Weise nachzubauen oder selbst welche zu erfinden: Das konnte ein marokkanischer Fliegenwedel sein, eine afrikanische Kleinskulptur, eine aus Kupfer getriebene Vase, ein orientalischer Dolch oder – für uns Kinder – ein komplettes Kasperltheater mit allen dazu gehörenden Figuren oder eine Indianerausrüstung mit Pfeil und Bogen samt pelzumrandeten Köcher, mit Federschmuck und Tomahawk. Und als wir auf Kriegsspiel umstellten, bastelte er aus einem Stück Holz eine Maschinenpistole mit einem eingearbeiteten Quirlstab als Lauf. Diese in seinem eigentlichen Beruf nicht zur Geltung kommen könnende Schaffensfreude hatte sich nach und nach ins Künstlerische entwickelt. Obwohl er, nach Aussage seiner Frau, nie ein Kunstmuseum besuchte und auch sonst keine bildungsbürgerlichen Ambitionen hegte, verstand er sich doch zunehmend als Hobbykünstler, wobei der Begriff ‘Hobby‘ vor allem auf die Tatsache hinweisen sollte, dass er das alles in seiner Freizeit und ‘außer Konkurrenz‘ betrieb. Das ehemalige Kinderzimmer wurde in ein Atelier umfunktioniert. Inmitten von Lösungsmitteldämpfen und Zigarettenqualm verbrachte er dort seine letzten Lebensjahre. Die dort entstandene Malerei pendelte zwischen figurativer Aktmalerei, Blumenmotiven und expressiver Abstraktion mit Anlehnungen an den Surrealismus. Sämtliche Bilder sind signiert und auf manchen sind auf der Rückseite kleine Schilder mit Verkaufspreisen aufgeklebt, denen zu entnehmen ist, dass die betreffenden Werke auf Hobbykunstmessen ausgestellt waren. Nach seinem Tod lebte seine Frau noch einige Jahre in der mit Artefakten aller Art vollgepflasterten Wohnung, bis sie dann in ein Pflegeheim wechselte und es mir überließ, diesen Bilderschatz zu übernehmen. Die Söhne wollten von diesem Nachlass nur ein paar Erinnerungsstücke behalten. Neben den Malereien, Kleinskulpturen befanden sich auch noch die Indianerausrüstung sowie einige uralte Gleispläne in dem Nachlass. Herrn Gs vom aktuellen Kunstdiskurs völlig abgekoppelte Malereien sind schwer qualifizierbar. Weder sind sie nur naiv noch nur effekthascherisch. Auf rätselhafte Weise haben sie jedoch etwas Authentisches.
'Jonas'
Dieser 1957 gedrehte und in Stuttgart spielende Film von Ottomar Domnick handelt von einem Schriftsetzer, der wegen eines gestohlenen Huts in Schuldgefühle verstrickt wird, die auf einen Vorfall zurückgehen, bei dem Jonas einen Freund beim Ausbruch aus einem Lager im Stich gelassen hatte. Der von Hans Magnus Enzensberger betextete Film zeigt gleich am Anfang eines der gerade erst fertiggestellten Eisenbahnerhochhäuser als Beispiel für das 'gerasterte Wohnen'. Der ebenfalls gerade erst in Betrieb genommene Stuttgarter Fernsehturm wird am Anfang und am Ende des Films in einer nächtlichen Einstellung gezeigt. Der über den Talkessel wie ein Lichtarm kreisende Scheinwerfer an seiner Spitze wird zum Suchscheinwerfer.
Kegeljunge im Bahnhofsturm

Die nach einem Foto gestaltete Zeichnung zeigt mich im Jahre 1969 als Kegeljunge tief im Keller des Stuttgarter Bahnhofsturms. Meine Aufgabe bestand darin, die jeweils umgeworfenen Kegel aus dem Schussfeld zu räumen und sie auf den Zuruf „Kegel auf“ schließlich allesamt wieder in ihre Ausgangsposition zurückzustellen. Die eigentlichen Akteure dieser dienstäglichen Kegelabende waren in der Mehrzahl pensionierte Eisenbahner der Generation Weltkrieg 1, allesamt nette Menschen, ein sonorer Verein, dessen Kassenwart mir nach getaner Arbeit feierlich 8 Mark auf den Tisch zählte, nachdem er mir, dem damals erst 14-Jährigen, schon bei der Ankunft eine Flasche Bier samt Bierschinkenwecken ausgehändigt hatte.
Von meinem am anderen Ende der Kegelbahn liegenden Bretterverschlag wurde ich Ohrenzeuge, wie sich diese spezielle Generation mit den gesellschaftlichen Turbulenzen jener Jahre auseinandersetzte. Die Rede war natürlich von Kriegsdienstverweigerern und Gammlern, die planlos in den Tag hineinlebten und alles nur kaputt machen wollten und am Ende gar noch den Stuttgarter Hauptbahnhof in die Luft sprengen würden, wenn sie nicht zu faul dazu wären. Eine Erkenntnis, die natürlich mit lauthalsem Lachen quittiert wurde. Hier hörte ich zum ersten Mal den berüchtigten, als Frage getarnten Satz, wer das denn alles aufgebaut habe, pikanterweise mit dem Daumen nach oben gerichtet, was sich hier drunten ja nur auf den darüberliegenden Bahnhof beziehen konnte. Und tatsächlich war einer der Kegler als Maurergeselle noch aktiv an der Erstellung dieses Gebäudes beteiligt gewesen. Er zumindest hatte allen Grund, sein Lebenswerk gegen jedwede Form von Beschädigung schützen zu müssen und sei es auch nur gegen das stilverletzende Herumlungern auf den Bahnhofstreppen
Da ich selbst in Bahnhofsnähe unter Eisenbahnern aufgewachsen war, wusste ich, dass alles, was Fahrpläne durcheinanderbringt, bei solchen zeitlebens darauf fixierten Menschen übertriebene Abwehrreflexe auslösen musste. Schon allein die Tatsache, dass ich nicht so recht wusste, was ich werden wolle, erregte bei meinen großväterlichen Gönnern den Verdacht, ich könne womöglich auf die schiefe Bahn geraten.
Andererseits schien es mir, als fühlten sie sich in ihrem tiefgelegenen Freizeitbunker hinreichend sicher, um selbst noch alliierten Bomberströmen standhalten zu können. Und als würden die polternden Geräusche der noch aus der Bauzeit stammenden Kegelbahn Erinnerungen an die Dramatik vergangener Tage wachrufen, als sei man nur deshalb hier zusammengekommen, um deren süßen Nachhall zu genießen.
Gegen diese Anbrandungen der Vergangenheit anarbeitend, las ich zu jener Zeit das unter linken Studenten in Mode gekommene und mich vor allem vom Titel her inspirierende Buch: 'Der eindimensionale Mensch' von Herbert Marcuse. Unter einem eindimensionalen Menschen stellte ich mir jemanden vor, der sein Leben so geradlinig und in starren Gleisen verlaufend eingerichtet hat, dass ihm die Zukunft notwendigerweise wie etwas bereits Vergangenes erscheinen muss
In einer befreiten Gesellschaft, heißt es bei dem von Schiller inspirierten Marcuse, würde der Unterschied zwischen Arbeit und Spiel, ja der zwischen Wissenschaft und Kunst eines Tages gänzlich verschwinden. Auf die nahen Verhältnisse übertragen, so viel begriff ich, würde das bedeuten, dass meine Arbeit als Kegeljunge in mehrfacher Hinsicht umkehrbar zu denken wäre. Ich hätte zum Beispiel eine der Holzkugeln nehmen können und diese aus reiner Spielfreude gegen die neun sich an ihren Bierflaschen festklammernden Pensionäre richten können, doch wäre das unklug gewesen, denn noch brauchte ich das Geld.
In diesem quer zu den Gleisen des Hauptbahnhofs liegenden Kegeltunnel erlebte ich jedenfalls gute anderthalb Jahre lang, dass der Umsturz der Verhältnisse - als bloße Freizeitbeschäftigung betrieben - auf Dauer langweilig wird, insbesondere. wenn man es, wie ich, nur mit den Aufräumarbeiten zu tun hat. War nicht ich es, der nach jedem Volltreffer der kegelnden Beamtenbande längst hätte sagen können: Aber bitte, meine Herren, wer hat denn das alles aufgebaut? - Doch schließlich wurde ich ja genau dafür bezahlt. Und war zufrieden.
Während oben-draußen in allen Lebensbereichen so etwas wie eine schleichende Revolution der Lebensverhältnisse stattfand, nahm hier in diesem von der Außenwelt abgedichteten Schusskanal die Revolution vergleichsweise bescheidene Formen an. Man hatte sich immerhin allmählich daran gewöhnt, dass ich ab und an ein Peace-Zeichen an der Brust trug, vielleicht aber nur deshalb, weil man davon ausging, dass eine vorschriftsmäßig dekorierte Brust immer noch besser s ei als Blumen im Haar.
Als ich eines Tages mit diesem selbstgemalten Peace-Zeichen an der Jacke Richtung Bahnhofsturm einschwenkte kam mir – wie vermutlich vielen anderen auch - die Idee, dass der auf dem Turm kreisende Mercedesstern durch eine minimale Veränderung in ein Peace-Zeichen verwandelt werden könnte und Stuttgart auf einen Schlag zu einer Hochburg der Friedensbewegung hätte werden können: was für eine phantastische Vorstellung!


Anm.: Diese Idee wurde viele Jahre später von einem Künstlerkollektiv mittels eines großen Styroporkeils tatsächlich realisiert!
Königin Elizabeth II in der Heilbronner Straße
Am 24. Mai 1965 besuchte Königin Elizabeth II mit ihrem Gemahl Prinz Philip Stuttgart. Mit vielen anderen Schaulustigen stand ich, damals 11 Jahre alt, an der Ecke Mönchstraße/Heilbronner Straße, um zum ersten und bislang einzigen Mal im Leben leibhaftig eine echte Königin zu sehen. Angeführt von einer keilförmigen Motorradstaffel der Stuttgarter Polizei bewegte sich ein Mercedes Pullmann 600 vergleichsweise langsam die Heilbronner Straße hoch, auf dem Weg nach Marbach, dem Geburtsort Schillers und Sitz des Schiller-Nationalmuseums. Und da stand im offenen Teil der Staatskarosse neben Ministerpräsident Kiesinger die damals 39jährige Königin von England, genannt Elisabeth die Zweite, und winkte in ihrem gelben Kostüm diskret mal nach links, mal nach rechts. Und wir jubelten ihr zu wie einem Popstar. Ihr Gatte, Prinz Philipp, war erst im nächsten Wagen zu sehen. Auf einem Foto des königlichen Konvois ist an der Ecke Wolframstraße- Heilbronner Straße links eine noch von Kriegsschäden gezeichnete Häusergruppe zu sehen. Dort befand sich direkt neben dem Café Dietz das Schreibwarengeschäft ‘Hopf‘. Hinter der Verkaufstheke breitete sich ein dunkel gebeizter, bis zur Decke reichender Wandschrank mit unzähligen Schubladen aus. Für uns Kinder war dieses Geschäft deshalb interessant, weil es dort solche grenzwertigen Dinge wie Stinkbomben, Knallerbsen, Knallfrösche und ‘Judenfürzle‘ zu kaufen gab. Letzteres waren kleine, aneinanderhängende Knaller, die sich in einer Kettenreaktion hintereinander entzündeten. Das Aussprechen des Wortes ‘Judenfürzle‘ war mit keinerlei Peinlichkeit verbunden. Für uns Kinder war dieses Wort ohne konkreten Wirklichkeitsbezug, etwa so wie ‘Panzerknacker‘ oder ‘Mohrenkopf‘. Auch das in diesem Kompositum steckende und eindeutig negativ konnotierte Wort ‘Jude‘ rief bei uns weder Scham noch Häme hervor, es war in gewisser Weise ohne Bedeutung, obwohl die Verbrechen an den Juden noch keine 20 Jahre zurücklagen. ‘Juden‘ und alles, was sie während der Nazi-Zeit zu erleiden hatten, waren für lange Nachkriegsjahre in einen von Gleichgültigkeit bestimmten Erinnerungsschatten getreten. Niemand aus der Erwachsenenwelt kam auf die Idee, dieses unsägliche Wort ‘Judenfürzle‘ wenigstens im Familienkreis aus dem Verkehr zu ziehen und durch ein anderes zu ersetzen. Gegen die Trägheit der Wörter ist schwer anzukommen. Es dauert, bis sich ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein dann auch im Sprachgebrauch niederschlägt.

Erst später habe ich in dem Buch ‘Der Stadtinspektor‘ des ehemaligen Stuttgarter Verkehrsdirektors Peer Uli Faerber, dem Erfinder des Weindorfes und der multikulturellen Straßenfeste, erfahren, dass dieses Geschäft bis 1939 noch einem Juden namens Gremliza, vom Autor auch Brembembele genannt, gehört hatte. Faerber schildert, wie dieses Geschäft seinerzeit von SA-Leuten demoliert wurde und seinen Inhaber in akute Lebensgefahr brachte.
Es mochte gegen 23 Uhr gewesen sein, als die Scheiben klirrten. Taschenlampen blitzten auf. Mit Geschrei schlugen dunkle Gestalten die wenigen Regale herunter, auf denen Bonbongläser und Limonadenflaschen standen oder Putzmitteldosen und Eimerchen. Die große Käseglocke zersplitterte, und die Gläser wurden an die Wand geworfen. Dann rief einer: ‘Typischer jüdischer Sauladen, nichts zu holen.‘
(Der Stadtinspektor, 1988, S.153)
Ich konnte nicht herausfinden, ob es Gremliza noch gelungen war, das Land zu verlassen oder ob er wie die meisten Württemberger Juden deportiert wurde und in einem Konzentrationslager verendete.
Martinsklause
Genau gegenüber vom Haupteingang zum Pragfriedhof befand sich viele Jahre die Gaststätte 'Martinsklause'. Saß man am Fenster, ließen sich, wenn nicht gerade eine Straßenbahn die Sicht versperrte, in aller Ruhe die Friedhofsbesucher studieren. Für meinen Vater bildete sie auf halbem Weg eine Zwischenstation auf dem Nachhauseweg von seinem Arbeitsplatz am oberen Ende der Friedhofstraße, der Kantine der Konsumgenossenschaft, und unserer am unteren Ende der Friedhofstraße gelegenen Wohnung. Da er als Küchenchef der großen Werkskantine nur für das Mittagessen zu sorgen hatte, endete seine Arbeitszeit gewöhnlich um 16 Uhr. Bis zum 'Nachtessen' um 18 Uhr blieben ihm knappe zwei Stunden, in denen er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte, denn viel los war um diese Zeit nicht. Was den zusätzlichen Vorteil bot, dass sein Alkoholkonsum nicht allzu viele Zeugen bekam. Vermutlich nutzte mein Vater den Zwischenstopp an diesem doch eher trostlosen und wenig frequentierten Ort auch, um seinen Traum eines eigenen Restaurants weiterzuspinnen und gleichzeitig in eine unbestimmte Zukunft zu verlagern.
Einmal, es war ein Sonntag, durfte ich ihn dorthin begleiten. Zum 'Frühschoppen', wie es hieß. Er traf sich dort mit einem 'Kriegskameraden'. Ich bekam eine Sinalco und spielte mit irgendetwas Mitgebrachtem unter dem Tisch herum. Die Sonne schien durch eines der seitlichen Fenster herein und ließ die zur Decke hochziehenden Rauchschwaden noch bläulicher erscheinen als sonst und das Bier noch goldener. Bei dem eigentlichen Gespräch zwischen den beiden ging es, so weit ich mich erinnere, weniger um Krieg als vielmehr um das, was aus denen, die ihn überlebt haben, inzwischen geworden ist. Aber natürlich auch um das eigene Schicksal. Die beiden hatten sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Als die Sonne hinter dem Haus verschwand, kippte der Raum mit seinen ohnehin schon dunklen Möbeln ins Düstere. Auch das Gespräch schien irgendwie ins Stocken geraten zu sein. Mein Vater merkte, dass es mir langweilig wurde und brach auf, nicht ohne seinem etwas schmächtig und zerknirscht aussehenden Kriegskameraden zum Abschied mit einem herzlichen „Mach`s gut “ auf die Schulter klopfte. Die beiden waren, wie ich auf dem Nachhauseweg erfuhr, einige Zeit in derselben Flugzeugkanzel gesessen. Der eine als Pilot, der andere als Funker und Bordschütze. Dann hätten sich ihre Wege getrennt und seien erst vor kurzem durch einen Zufall wieder zusammengeführt worden. Seinen Kriegskameraden hätte es in den Nachkriegsjahren etwas aus der Bahn geworfen. Er werde schauen, was er für ihn tun könne. Den Ausdruck 'aus der Bahn geworfen' habe ich erst viel später verstanden.
Scheinanlage Brasilien

Fast drei Jahre lang existierte der Stuttgarter Hauptbahnhof in zwei Versionen, einmal als Original und einmal als Attrappe. Unter der Tarnbezeichnung 'Brasilien' war zwischen 1940 und Anfang 1943 auf den Feldern westlich von Lauffen am Neckar eine militärische Scheinanlage aufgebaut, die den einfliegenden britischen Bombern ein Nachtbild von Stuttgart vorgaukeln und sie zum Bombenabwurf veranlassen sollte. Diese um eine Attrappe des Stuttgarter Hauptbahnhofs herumgebaute Lichtinszenierung kam dem nächtlichen Stuttgart, wie es sich aus der Vogelperspektive dargeboten hätte, so nahe, dass tatsächlich eine Vielzahl von Spreng- und Splitterbomben abgeworfen wurden, die teilweise auch die Stadt Lauffen selbst in Mitleidenschaft zogen, so dass sich der damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett im Jahr 1958 veranlasst sah, sich bei den Lauffener Bürgern dafür zu bedanken bzw., zu entschuldigen, dass diese 'den Kopf hingehalten' hätten für Stuttgart. Als Geschenk wurde dem Lauffener Bürgermeister ein heute verschollenes 'Stuttgart-Bild' - ein Ölgemälde im Wert von 500 DM - überreicht.
Schichtung

Jedes beliebige Stück Wirklichkeit, jeder beliebige Weltausschnitt lässt sich als eine Fläche verstehen, die sich aus der Überlagerung unendlich vieler Schichten zusammensetzt, wobei die jeweils oberste Schicht die Gegenwart bezeichnet. Die fortwährende Überschreibung dieser Fläche ist das, was wir Wirklichkeit nennen.

Das vom Gleiskörper des Stuttgarter Hauptbahnhofs an seiner östlichen Flanke sichelförmig eingefasste Gebiet besteht aus dem Europaviertel (ehemals Güterbahnhof), dem Pragfriedhof, dem Gelände rund um die Wagenhallen (Innerer Nordbahnhof) sowie dem Eisenbahnerviertel an der Nordbahnhofstraße. Im Zuge des Großprojekts Stuttgart 21 wird das Gleisfeld samt Betriebsbahnhof am Rosensteinpark komplett verschwinden und nach und nach überbaut werden. Die Transformation dieser Gleislandschaft in großstädtischen Wohn- und Geschäftsraum wird die von dieser Raumspange zusammengehaltenen Stadtareale ebenfalls transformieren. Schon in den 1960/70er Jahren zogen wegen des geringen Standards der Wohnungen und dem Schwerlastverkehr auf der Nordbahnhofstraße viele alteingesessene Mieter in andere Stadtteile. Vorwiegend ausländische Bahnmitarbeiter zogen nach, was dem Stadtteil zu seinem multikulturellen Gepräge verhalf und wegen seiner Abgeschlossenheit die Gefahr der Ghettobildung heraufbeschwor.

Möglich, dass sich das über 100 Jahre alte Nordbahnhofviertel in eine Art Quartier Latin verwandeln wird, das den gestressten Angestelltenseelen der benachbarten Büropaläste ein nostalgisches Ambiente liefern wird für das Bedürfnis nach Tradition und Geschichte.

Das ehemalige ‘Eisenbahnerdörfle‘ als Lifestyle-Kulisse mit exotischen Restaurants, Bioläden und Galerien wird den dort Wohnenden das Gefühl vermitteln, Teil eines Künstlerdorfes zu sein, das es in dieser Geschlossenheit in Stuttgart nicht noch einmal gibt. Marketingleute werden diesen dann emporgeedelten Stadtteil vielleicht ‘Herz des Nordens‘ nennen oder gar Étoile du Nord‘ - so hieß ein berühmter, zwischen Paris und Amsterdam verkehrender, mit Pullmann-Waggons bestückter Fernzug. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, etwas Altes mit neuen Gefühlen aufzuladen – oder Fernweh in etwas Bodenständiges zu verwandeln. Die von Neubauarealen, Kreativflächen und einem Friedhof eingerahmte Backsteinromantik wird sich von den obersten Stockwerken der Hochhäuser wie eine Wohlfühlinsel ausnehmen. Die Hochhäuser selbst werden sich neu erfinden müssen.
Südmilch
Im Hochhaus Friedhofstraße 11 befand sich neben einem Konsum-Laden auch ein Milchladen der ganz in der Nähe, in der Rosensteinstraße beheimateten Firma Südmilch. Noch heute erinnert die Straßenbahnhaltestelle 'Milchhof' an dieses 1994 abgerissene Firmengelände. Im Laden wurde die Milch mittels einer Handpumpe in die mitgebrachten Milchkannen abgefüllt. Für 10 Pfennig gab`s, als Belohnung fürs Milchholen, eine Eistüte voller Schlagsahne. Die Verkäuferinnen trugen das Südmilch-Logo - eine weiße Milchflasche auf rotem Kreis, der oben in Zacken ausläuft - sowohl auf den Brusttaschen ihrer weißen Arbeitskittel wie auf auf ihren ins Haar gesteckten Häubchen. Die Fusion von 'Süden' und 'Milch' im Wort 'Südmilch' kann wie ein verdoppeltes Glücksversprechen wirken. Milch ist gesund und der Süden angenehm warm. Das Dreieck zwischen Milchhof, Bahnhof und Friedhof umschreibt eigentlich alles, was ein Leben an Eckpunkten zu bieten hat.
Schnappschuss mit Ruine
Eineinhalb Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schaut ein junges Ehepaar vom Kinderzimmer ihrer Nachbarn aus auf eine Ruinenlandschaft. Was da vor ihnen liegt, besteht aus Grundmauern, einigen Fassadenteilen und einer Menge Schutt, der bis in die eingestürzten Kellergeschosse hinunterreicht und an seinen erdhaltigsten Stellen mit Buschwerk und Bäumchen besiedelt ist. Zwischen den vormaligen Häuserblöcken haben sich Trampelpfade gebildet, die teilweise bis in die steinernen Grundrisse der Gebäude hineinführen und dort in irgendwelchen Kellerlöchern enden.

Von all dem ist auf dem Foto, wenn überhaupt, nur ein winziger Ausschnitt zu sehen. Doch hat sich in meiner Erinnerung das Bild dieser Ruine so festgesetzt, dass ich es auch ohne fotografische Unterstützung als immer noch gegenwärtig empfinde. Fast die gesamte Kindheit über hatte ich, wann immer ich aus dem Fenster unseres Kinderzimmers schaute, diese in Parzellen unterteilte Backsteinwüste vor Augen; und nichts hätte mich und meine Freunde davon abbringen können, in dieser verbotenen Zone nach Abenteuern zu suchen, also etwas zu tun, das Mama und Papa nicht zu wissen brauchten, wofür Schlupfwinkel aller Art vonnöten sind, und eine Ruine ist naturgemäß voll davon. Obwohl der Begriff 'Abenteuerspielplatz' noch gar nicht geboren war, darf man in diesem aus unerfindlichen Gründen stehengebliebenen Ruinenviertel einen seiner natürlichen Vorläufer erkennen. Die von spielenden Kindern und in den Kellern hausenden Obdachlosen gebildete Infrastruktur nahm sich im Vergleich zur offiziellen Stadtplanung wie etwas Anarchisches aus, wiewohl jeder dieser Wege in geradezu vorbildlicher Weise der Topografie angepasst war und nichts anderes als den tatsächlichen Gebrauch der Füße abbildete. Das Blechschild ‘Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder‘ zeigte keine besondere Wirkung. 'Haftende Eltern’ liegen außerhalb der Vorstellungswelt von Kindern, und Obdachlose lassen sich von derartigem Amtsdeutsch am wenigsten einschüchtern.

Zu jener Zeit waren Weltkriegsruinen im Stadtbild schon selten geworden. Der Wiederaufbau war weitgehend abgeschlossen und überdies von einer Versiegelungswut begleitet, die nicht nur als Beton in Erscheinung trat, sondern auch als Mayonnaise und Heimatfilm. Ruinen, die nichts mit Mittelalter und Burgen zu tun hatten, wären, wo sie noch auftauchten, nur schlechte Vergangenheit gewesen, nichts für Betriebsausflüge und Wandertage. Nur der im Niemandsland zwischen Ost und West gelegene Führerbunker hätte es – mit einigen ideologischen Verrenkungen – zum touristischen Höhepunkt einer Berlinreise bringen können. Trotz mehrerer Sprengversuche hatte er den Krieg um Jahrzehnte überdauert, bis seine Reste endgültig in den Berliner Treibsand einbetoniert wurden und heute von einem hundsgewöhnlichen Parkplatz überdeckelt sind.

Das massive, vierstöckige Gebäude im Hintergrund des Fotos hat den Krieg ebenfalls überdauert und bildet nun eine Art Bühnenhintergrund für das vor ihm liegende, für viele Jahre aus dem Stadtbild gelöschte Wohnviertel. Wegen ihrer Nähe zum Angriffsziel Stuttgarter Hauptbahnhof war diese Gegend mehrmals massiven Luftangriffen ausgesetzt gewesen. Das unmittelbar am Gleisfeld gelegene Martinsviertel wurde in der Bombennacht vom 12. September 1944 fast vollkommen ausradiert. Die Anwohner waren größtenteils in den Keller einer an der Ecke gelegenen Apotheke geflüchtet, doch hatte der durch die Brandbomben entfachte Feuersturm nach und nach den Sauerstoff aus dem Keller gesaugt, so dass die dort versammelten Menschen qualvoll erstickten. Das zerstörte Viertel blieb aus unerfindlichen Gründen fast zwanzig Jahre lang unangetastet. Erst 1963 wurde das Ruinenfeld plattgemacht und an seiner südöstlichen Ecke mit einem Männerwohnheim überbaut. Das restliche Terrain diente einem Autohaus lange Jahre als Parkplatz und Verkaufsfläche.

Das aus dem Fenster blickende Ehepaar wohnte damals im ersten Stock eines dreizehnstöckigen Gebäudes, Teil eines für Eisenbahner erbauten Hochhausquartetts, das zeitgleich mit dem Stuttgarter Fernsehturm hochgezogen wurde und Mitte der fünfziger Jahre so penetrant modern wirkte, dass es heute fast wieder als nostalgisch empfunden werden kann.

Er arbeitete damals als Schaffner, sie, eine gelernte Friseurin, als Hausfrau und Mutter. Von ihrer eigenen Wohnung aus wäre die Ruine nicht zu sehen gewesen, so dass anzunehmen ist, dass mein Vater, dem dieses Foto zu verdanken ist, die neu hinzugezogenen Nachbarn eigens in unser Kinderzimmer gebeten hatte, um sie auf diese Attraktion aufmerksam zu machen. Er selbst war im Krieg aktiv an der Bombardierung bebauter Flächen beteiligt gewesen und in gewisser Weise auf den Anblick solcher Zerstörungen eingestellt. Als dieses junge Paar geboren wurde, befand mein Vater sich bereits auf Feindflug über England. Dies mochte ihn in den Augen der Nachbarn als Fachmann für solche historischen Nachbilder qualifiziert haben.

Warum mein Vater dieses Foto überhaupt aufgenommen hatte, ist nicht so einfach zu erklären. Die Rückenansicht eines aus dem Fenster schauenden Paars ist kein gängiges Bildmotiv. Angesichts des unspektakulären Fensterausschnitts kann es sich eigentlich nur um eine Laune gehandelt haben – oder um eine besondere Vorliebe für die hypnotische Anziehungskraft abstrakt gemusterter Stoffe. Das aus kissenartigen Vierecken zusammengesetzte Muster der Kittelschürze könnte den gelernten Koch an Teigtäschchen erinnert haben. Vielleicht wollte er mit diesem ganz sicher bis in die Ruinenlandschaft hineinreichenden Lichtblitz den Nachbarn auch nur einen kleinen Schrecken einjagen. Wo eine Ruine ist, mochte er gedacht haben, soll das Spektakel nicht fehlen.

Auf dem zeittypischen Kinderzimmervorhang sind bekannte Märchenmotive zu erkennen: das ihren Rock aufspannende Sterntalermädchen, das den Apfelbaum schüttelnde Mädchen aus Frau Holle, der Zwerg mit Laterne aus Schneewittchen sowie der einen Goldklumpen unter dem Arm tragende Hans im Glück. Die Räume dazwischen sind mit Blütengirlanden gefüllt. Solche an Kinderaugen adressierten, gleichwohl von Erwachsenen ausgedachten Fantasiewelten führen ein zähes Eigenleben. So stellen sich Erwachsene die Träume ihrer Kinder vor, wenn sie ihnen mit einem ‘Träum süß‘ auf den Lippen den Gutenachtkuss geben.

Der Einsatz des Blitzlichts, das sich sowohl in der Fensterscheibe des Kinderzimmers wie auch – gleich achtfach – in einer der Scheiben des Gebäudes im Bildhintergrund spiegelt, hat dazu geführt, dass das Zimmer, das hier als Loge fungiert, für einen winzigen Moment überbelichtet wurde. Möglich, dass die beiden Fenstergucker in Wirklichkeit im Dunkeln gestanden und sich ungeniert der Melancholie hingegeben haben. Der Anblick einer im Abendlicht verdämmernden Ruine macht empfänglich, wenn schon nicht für romantische Gefühle, so doch für tiefere Betrachtungen über die Vergänglichkeit allen Seins. Und natürlich auch für manche Abgründe der eigenen Seele. Die vereinzelt in den Ruinenkellern hausenden Obdachlosen konnten, sofern sie überhaupt mit einem Blick erhascht wurden, zu einer Verstärkung des Geborgenheitsgefühls in den eigenen vier Wänden führen, genauso gut aber auch zu einer reflexhaften Abwehr dieser vom Schicksal hierher verschlagenen, den gesellschaftlichen Abstieg überdeutlich vor Augen führenden und deshalb von manchen Hausbewohnern zu 'Kellerasseln' erklärten Menschenunfällen.

Was von der Modernekritik 'metaphysische Obdachlosigkeit' genannt wurde, spielte hier allerdings keine große Rolle. Wer statt einer einsturzgefährdeten Kellerdecke zwölf massive Stockwerke plus Dachgarten über sich hat, kann damit nicht allzu viel anfangen. Und wer es aushält, neben einer toten Katze zu schlafen, hat andere Probleme.

Während die Frau sich mit beiden Armen auf dem Fensterbrett abstützt, umgreift die rechte Hand des Mannes den Holm des Gitterbetts. In der Weihnachtszeit wurde dieses Kinderbett von meinem Vater in nächtlicher Kleinarbeit mehrmals mit einer Modelleisenbahnanlage überbaut, deren Thema eine idyllische Schweizer Berglandschaft war und deren Inbetriebnahme als erweiterte Bescherung verstanden werden sollte, so dass wir Kinder während dieser Bastelarbeiten auf die Wohnzimmercouch ausgelagert wurden und erst an Heiligabend das Kinderzimmer wieder betreten durften.

Derzeit wird das seit 1963 nur geringfügig veränderte Gelände erneut überbaut. Es soll ein gemischtes Quartier mit zentraler Parkanlage entstehen. Beim Ausheben der Baugrube für den Neubau des Männerwohnheims sind einige der Fundamente der im Krieg zerstörten Gebäude für kurze Zeit wieder sichtbar geworden. Archäologen haben sich keine eingefunden, wohl aber einige der Obdachlosen, die in Kürze in diesen Neubau am anderen Ende des Viertels umziehen werden. Der Altbau wird abgerissen.

Direkt neben dieser im Bau befindlichen Notunterkunft für Wohnungslose, jedoch etwas außerhalb des ursprünglichen Martinsviertels, befindet sich seit einigen Jahren schon eine in den Baugrund gegossene, aus Obstacles, Ledges, Stairs, Halfpipes und Curbs zusammengesetzte Skater-Anlage, die mittlerweile aus Lärmschutzgründen überdacht wurde, so dass ihre Benutzer sich nun anwohnerfreundlich und bis in die Nacht hinein kopfüber in die Betonwannen stürzen können.

Das Paar lebt noch immer in diesem Hochhaus, allerdings sieben Stockwerke höher. Das Hochhausquartett gehört nicht mehr der Eisenbahngesellschaft, sondern einer großen Immobilienfirma. Die Kinder sind längst aus dem Haus, die meisten altbekannten Nachbarn verstorben und der Dachgarten ist mit Handymasten übersät. Man hat jetzt viel Zeit füreinander, was der Laune nicht immer förderlich ist. Statt auf eine Ruine blickt man vom Wohnzimmerbalkon aus auf das noch befahrene Gleisbett des Hauptbahnhofs. Es wird in wenigen Jahren vom Erdboden verschwunden sein und einem komplett neuen Stadtteil Platz machen.
Weihnachten ' 53
Acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die künstlerische Abstraktion in den deutschen Wohnzimmern angekommen. Allerdings nur hinsichtlich ihrer dekorativen Qualitäten. Der neue Vorhang bietet dem Auge ein überraschendes Potpourri aus Miro, Matisse und anderen modernen Malern. Bunte, von Linien durchzogene Mehrecke wechseln mit pflanzenhaft schlingernden Formen. Dieselbe Formensprache, die zu jener Zeit auch auf Bezugsstoffen und Tapeten populär werden konnte, hätte als gerahmtes Einzelbild keine Chance gehabt gegen röhrende Hirsche und bäuerliche Vesperszenen. Offenbar ist es ein Unterschied, ob man sich ein Bild von der Welt machen will oder sich in ihr einrichten. Derselbe Vorhangstoff auf Keilrahmen gespannt, würde die Behauptung enthalten, dass so die Welt aussähe, während er vor dem Fenster hängend eine klare Abschirmfunktion erfüllt. In diesem Fall hätte der ungehinderte Blick nach draußen eine in der Nacht beleuchtete Ruine gezeigt.

Es ist Weihnachten. Der sechsjährige Knabe - mein Bruder - steht da wie eine Eins oder so wie man zum Rapport antritt. Mehr eingeschüchtert als stolz blickt er an der Kameraoptik vorbei. Die Lichtreflexe in den Augen stammen von einem neu auf den Markt gekommenen Elektronenblitzgerät, das sich der fotografierende Vater eigens angeschafft hatte, um seine Familie besser im Bild festzuhalten zu können. Das gleißende Aufleuchten der Blitzröhre wird von einem einschüchternden Plopp begleitet, dem Entladungsgeräusch der Blitzkondensatoren. Das mit pastellfarbigen Quadraten bemusterte Flanellhemd, aus dessen zu langen Ärmeln die Spielhände wie Krebsscheren herausstehen, ist ein Geschenk der Tante aus Amerika.
Die Modelleisenbahn im Kinderzimmer
Das zur Weltkriegsruine hin ausgerichtete Kinderzimmer wurde Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre jeweils in der Vorweihnachtszeit von meinem Vater in Beschlag genommen, um in seiner Freizeit so heimlich wie möglich sich und seiner Familie eine Zweitwelt zu erbasteln. Sie sollte schöner sein als die erste. Das Codewort hierfür lautete Modelleisenbahn. Damit war zu jener Zeit alles gemeint, was von väterlicher Seite an Wiedergutmachung zu leisten war.

Die aus Landschaftszitaten, Schienen, Brücken, Signalmasten und dörflichen Gebäuden zusammengesetzte Welt ist politisch neutral und wurde von ihrem Erbauer mit großer Liebe zum Detail in Szene gesetzt. Der für die ländlichen Verhältnisse etwas überdimensionierte Bahnhof trägt den Ortsnamen ‘Seeblick‘, was sich in dieser durchtunnelten Welt nur auf ein Binnengewässer beziehen kann und keinesfalls auf einen Ozean mit Orkanen, Flugzeugträgern, U-Booten und transatlantischen Bündnissen.

Zunächst ging es dabei natürlich um die private Konstruktion oder Rekonstruktion von Idylle, wenn auch unter vorwiegend technischen Bedingungen; im weiteren Verstand um den Wiederaufbau Deutschlands aus dem Geist einer heilgebliebenen Bergwelt.

Jeder gute und jeder schlechte Deutsche verfügt über so etwas wie eine innere Schweiz, in die er sich im Bedarfsfalle, d. h. wenn die äußeren Verhältnisse als zu prosaisch empfunden werden, zurückziehen und ausspannen kann. Hier, im Faltenwurf erhabener Ideen, nistet sich die komplizierte Seele am liebsten ein. Hier darf sie in engen Schleifen um sich selber kreisen.

Ein rotbrauner Dieseltriebwagen kurvt in einer Unendlichkeitsacht um zwei liebevoll ausgestaltete Kessel, von denen der linke eine komplette Kleinstadt mit Bahnhof und davorliegendem Marktplatz und der rechte eine rein ländliche Szenerie mit Teich, Brücke, Schafherde und Bauernhof enthält. Zwischen den Kesseln selbst ist der Bahnverkehr mittels eines kurzen Tunnels durch eine dampfbetriebene Nebenstrecke geregelt. Räumlich dominiert wird diese geometrisch organisierte Idylle von einem aus Sackleinen und Spachtelmasse geformten, mit alten Zeitungen ausgestopften Berg. Er nimmt das hintere linke Drittel der Anlage ein und überwölbt ein Stück weit den Kesselrand, so dass der Triebwagen immer wieder einen Tunnel durchqueren muss. Auf halber Höhe, direkt über dem Tunnel, steht - sozusagen als Blickfang - eine kleine Bergkapelle, deren Original übrigens noch heute im Engadiner Fextal zu bewundern ist und dort vor über 100 Jahren Friedrich Nietzsche, dem selbsternannten Umwerter aller Werte und Lehrer der ‘Ewigen Wiederkunft des Gleichen‘ während seiner Sommeraufenthalte in Sils Maria mit großer Wahrscheinlichkeit als Umkehrpunkt seiner ausgedehnten und gedankenreicher Spaziergänge diente. Die Modellbahn-Anlage, der dieses Motiv entnommen ist, stammt aus dem Deutschland der späten fünfziger Jahre, aus der Zeit des Kalten Krieges, als Deutschland am übersichtlichsten war, gerade weil es zwei davon gab.

Die Wiederkehr des Gleichen wird in der nun fertig eingerichteten Welt schnell langweilig. Solange die Anlage im Aufbau war, hatte die Schaffensfreude, wie sie gerade in der Welt des Hobbys noch ungebrochen erlebt wird, eine Reserve, einen utopischen Überhang; jetzt, wo alles fertig ist und die wartenden Plastikfiguren auf dem Bahnsteig auf ewig ihre Hand zum Gruß auszustrecken scheinen, macht sich doch ein Gefühl der Leere breit. Auch die anspruchvollsten Rangiermanöver auf dem Gelände des Bahnbetriebswerks führen nur noch zu massigem Lustgewinn. Es fehlt das Dramatische, etwas, in dem die in die Anlage verbaute Energie auf einen Schlag zum Vorschein kommen könnte.

Immer wieder wird die Modellbahnanlage deshalb zum Ort genau kalkulierter Entgleisungen. Der rote Triebwagen stürzt beispielsweise wegen überhöhter Geschwindigkeit vom Viadukt in einen der beiden Kessel: auf den öffentlichen Marktplatz oder die friedlich weidende Schafherde; oder zwei aus entgegengesetzten Richtungen kommende Züge prallen wegen einer fehlgeschalteten Weiche frontal aufeinander; technische Katastrophen, die zur Folge haben, dass der für solche Zwecke im Betriebswerk bereitstehende Kran-Zug endlich herangefahren werden muss. Die kitzelnde Szene wird fotografisch festgehalten, des öfteren aus einem Blickwinkel, wie er nur von einem Flugzeug aus denkbar wäre, nämlich senkrecht von oben.

Mitte der sechziger Jahre entschloss sich mein Vater - aus Gründen, die nie ganz klar wurden - das gesamte in Kartons und Kisten verpackte Material in einen dauerhaften Lagerzustand zu überführen: ein großer, ausgedienter Vorratsschrank, von dem die Türen entfernt wurden, diente nun mit seiner oberen Hälfte als Depot für die nicht mehr illusionistisch verwendeten Teile. In der unteren Hälfte war eine kleine Werkbank untergebracht. An den Innenwänden hingen griffbereit die verschiedensten Werkzeuge, eine komplette Heimwerkerausrüstung samt Bohrständer. Sie wurden jedoch nie benutzt, sondern ebenso wie die anderen in den Schrank integrierten Teile von einem alten Bürostuhl aus allabendlich von seinem Besitzer wie etwas Endgültiges betrachtet. Die ganze Szene spielte sich ab in einem Abstellraum von dreieinhalb Quadratmetern Größe. An der freien Wand links neben dem Wandschrank hing neben dem Staubsauger Marke ‘Vorwerk‘ noch ein grün lackierter Kugelfang mit eingesteckter Pappzielscheibe. Bei geöffneter Tür war es möglich, von der Küche aus durch den Flur in den Abstellraum zu schießen. Für den einzigen Probeschuss war ein Kleinkalibergewehr mit Zielfernrohr sowie 500 Schuss Munition bei dem großen Versandhaus ‘Quelle‘ bestellt worden. Die 499 verbleibenden Patronen bildeten ein Potential, das weit über jeden privaten Verteidigungswillen hinausreichte und sich eigentlich in Sport hätte verwandeln müssen. Der frühe Tod des Modellbahners hat mit der Anschaffung der Waffe nichts zu tun.
Facing the promises of a better future
Facing the promises of a better future

Wer im Jahr 2012 die Stadtbahn-Haltestelle 'Staatsgalerie' in Richtung Stuttgarter Hauptbahnhof verlässt, trifft auf ein Stück Brachland der besonderen Art: Den einzigen noch frei zugänglichen Ort jenes Teils des ehemaligen Schlossgartens, der heute als 'Bahnhofs-Erwartungsland' bezeichnet werden kann. Diese Zugänglichkeit hat das bisher kaum beachtete Grünstück, eine bloße Flanke der Haupt-Transitstrecke unmotorisierter Personenströme, zu einem Zentrum der Leidenschaften gemacht: Zum Ort der Trauer nach der Niederlage im Kampf gegen die Abholzung der Parkbäume, wie auch der vitalen Auseinandersetzung mit den Visionen seiner zukünftigen Nutzung.

Um die mit Grablichtern bestückten Baumstümpfe herum leuchten die Blüten aufgegangener Saatbomben. Ein paar nicht funktionierende Parklaternen und die Reste entfernter Sitzbänke und Mülleimer erinnern an die ehemaligen Aufenthaltsqualitäten der landeseigenen Anlage, welche dem Grundstück vom künftigen Nutzer, der Bahn AG, genommen wurden, um Platz für das Neue und Bessere zu schaffen. Um die Utopie zu füttern, dass die Realisierung der perfekten Stadt nun in greifbare Nähe rückt.

Für die in den Boden betonierte Halterung eines bereits entfernten Mülleimers fertigen wir eine Sitzbank, welche dort mit wenigen Handgriffen fixiert wird. Wir setzen uns so, dass die Schrift auf der Rückenlehne sichtbar bleibt, welche auf den Verwendungszweck der Bank verweist: "facing the promises of a better future." Hier verweilend, liegt der Kahlschlag hinter uns und vor uns verstellen die ausgeplotteten Versprechungen auf das Zukünftige den Blick auf die dahinter verborgene Realität:

Linker Hand die witterungsbeständige Reminiszenz des legendären und bereits musealisierten Stuttgarter Bauzauns. Vereinzelte Leerstellen, in welche die Adressaten der Reklame aufgefordert sind, ihre Wünsche für ein neues Stadtquartier zu schreiben, sollen das Gefühl des Gehörtwerdens vermitteln. Im Gegensatz zur gegenwärtigen Absperrung gewährt die Bauzaunillustration einen Durchblick auf die schöne, neue, sterile Welt, in der, wie auf den anderen Plakaten, die Multitude allein durch gut gekleidete weisshäutige Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter repräsentiert ist.

Am augenfälligsten ist das Plakat uns direkt gegenüber. Es zeigt Max Maulwurf, eine Comic-Figur, mit welcher die Bahn AG seit über zehn Jahren um Verständnis für baubedingte Unannehmlichkeiten wirbt. Ihr Urheber ist Wolf Erlbruch, seit 2002 wird sie vom Stuttgarter Illustrator Fritz Reuter gezeichnet, der sich auf seinem facebook-Foto mit zugekniffenem linken Auge zeigt1. Diese ungewöhnliche Pose weist eine Analogie zum dargestellten Maulwurf auf. Wenngleich sein natürliches Vorbild blind ist, so wühlt Max doch sehenden Auges im Schein einer Grubenlampe. Wie weitsichtig, dass die Bahn AG auch für ihr umstrittenstes Bauvorhaben die Figur des Maulwurfs bemüht, welcher bereits in Shakespeares Hamlet die Unterminierung der gesellschaftlichen Ordnung symbolisiert2 und später bei Marx für die Revolution selbst steht!3 Schlimmer noch bei Schopenhauer, der in seinem Werk mit dem sinnreichen Titel ‘Die Welt als Wille und Vorstellung’ auf das traurige Dasein des Maulwurfs in der immer gleichen Bahn verweist, auf welcher "das Leben ein Geschäft ist, dessen Ertrag bei weitem nicht die Kosten deckt".4
Wenn, wie Hardt und Negri behaupten, Marx´ Maulwurf tot ist5, so ist vielleicht Max sein Nachfolger. Fleißig wühlt er im Stuttgarter Untergrund, bis eines Tages die Fundamente des Bahnhofsbaus vollständig untergraben sein werden.

Im Nachhall dieser Gedankengänge erscheinen uns die auf den anderen Plakaten dargestellten 'Lichtaugen' wie kontrolliert gesetzte Maulwurfshügel, durch welche etwas Licht ins Dunkel des Tiefbahnhofes fallen soll. Licht für den Betriebsablauf; bloß kein Licht der Erkenntnis, wie es durch die Proteste gegen das Großprojekt zu Tage gefördert wurde, als der braven Bürgerschaft der Kragen platzte und diese sich erhob. Allen voran Dietrich Wagner, dem seine Standhaftigkeit das Augenlicht gekostet hat; der maulwurfsblind geschossen wurde, zur Warnung aller, welche auf Denkmalschutz, Versammlungsfreiheit und Naturschutz auch dann noch bestehen, wenn diese den Landeslenkern ein Dorn im Auge sind. "Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich?" hat jemand mit Marker in den Lichtkegel der Maulwurfslampe geschrieben. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
1 https://www.facebook.com/photo/?fbid=103768559666980&set=ecnf.100001015105258
2 "You said it right, old mole. You’re pretty busy down there in the dirt, aren’t you? What a tunneler! Let’s move again, my friends." William Shakespeare, Hamlet, 1603
3 "Aber die Revolution ist gründlich. Sie ist noch auf der Reise durch das Fegefeuer begriffen. Sie vollbringt ihr Geschäft mit Methode. Bis zum 2. Dezember 1851 hatte sie die eine Hälfte ihrer Vorbereitung absolviert, sie absolviert jetzt die andre. Sie vollendete erst die parlamentarische Gewalt, um sie stürzen zu können. Jetzt, wo sie dies erreicht, vollendet sie die Exekutivgewalt, reduziert sie auf ihren reinsten Ausdruck, isoliert sie, stellt sie sich als einzigen Vorwurf gegenüber, um alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen sie zu konzentrieren. Und wenn sie diese zweite Hälfte ihrer Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitze aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!" Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852.
4 "Wenn man Beides, die unbeschreibliche Künstlichkeit der Anstalten, den unsäglichen Reichthum der Mittel, und die Dürftigkeit des dadurch Bezweckten und Erlangten neben einander hält; so dringt sich die Einsicht auf, daß das Leben ein Geschäft ist, dessen Ertrag bei Weitem nicht die Kosten deckt. Am augenfälligsten wird Dies an manchen Thieren von besonders einfacher Lebensweise. Man betrachte z.B. den Maulwurf, diesen unermüdlichen Arbeiter. [...] Was aber nun erlangt er durch diesen mühevollen und freudenleeren Lebenslauf? Futter und Begattung: also nur die Mittel, die selbe traurige Bahn fortzusetzen und wieder anzufangen, im neuen Individuo." Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819
5 "Well, we suspect that Marx’s old mole has finally died. It seems to us, in fact, that in the contemporary passage to Empire the structured tunnels of the mole have been replaced by the infinite undulations of the snake." Michael Hardt/Antonio Negri, Marx’s Mole is Dead!, 2000
Zimmer im Männerwohnheim
Interview mit Andreas Strunk (AS),
Mitte der 1970er Jahre Leiter des Männerwohnheims Nordbahnhofstraße 21
HOUSING FIRST

Interview mit Andreas Strunk (AS), Mitte der 1970er Jahre Leiter des Männerwohnheims Nordbahnhofstraße 21

Gesprächspartner: Stephan Köperl (SK), Harry Walter (HW)
Wernau 18.03.2023

AS: In der Nordbahnhofstraße 21 herrschte ja ein ziemlich hartes Regime. Morgens mussten die Männer das Wohnheim verlassen und abends kamen sie wieder. Die Männer! Die Frauen sind, sage ich mal, ein bisschen liebevoller behandelt worden. Die durften bleiben. Die Zustände, die ich vorgefunden habe, die waren ja ziemlich hart. Ein Oberarzt, der hat einen Artikel geschrieben über dieses Asyl, das ist in der Zeitschrift „Neue Praxis“ erschienen, der hat das relativ sauber analysiert. (vgl.: Dieter Frießem: Interaktionsformen in einem Asyl für Nichtseßhafte, Neue Praxis, 4, 1974 )

SK: Wie kamen Sie zur Leitung dieses Männerwohnheims?

AS: Na ja, das war ganz einfach. Ich gehöre ja zur 68er Generation und ich habe ja Architektur studiert, vorher habe ich Theologie studiert, das habe ich dann aber abgebrochen. Und es war ja so, dass wir damals alles andere als die klassische Architektur studiert haben. ... Wir waren sehr fasziniert von Psychoanalyse und Städtebau und haben alles von hinten oder von vorne analysiert, und das war dann die Voraussetzung, dass ich mich eigentlich schon damals in die soziale Arbeit eingemischt habe, so kam er wohl zur Berufung in die Position als Leiter des Wohnheims in der Nordbahnhofstraße, weil nämlich der damalige Sozialamtsleiter, Dieter Rilling, fand niemand, und zwar seit Jahren, der sich das zugemutet oder zugetraut hätte, dieses Wohnheim zu leiten. Und ich war damals ziemlich mutig. Ich habe gesagt, probier ich`s halt mal. Und das hat ja auch sehr gut geklappt. Meine Beziehungen in den Stadtteil konzentrierten sich auf der einen Seite auf die Kooperation mit der Polizei. Die Zustände in dem Wohnheim waren ja sehr gewaltstrukturiert. Insbesondere in der Männerabteilung herrschte teilweise ein hartes Regime. Die Gewaltbereitschaft auf der Seite der Klientel war sehr hoch, teilweise auch bedingt durch den Alkoholmissbrauch oder Gebrauch. Bei meinem Personal war es zwar etwas geringer, aber wir hatten zum Beispiel einen Aufsichtsbeamten, der hat dann einfach auch mal zugeschlagen, wenn er keine andere Lösung mehr wusste. Und teilweise entwickelte sich die Aggression der Klienten mir gegenüber als Chef auch so, dass sie draußen, vor dem Wohnheim, mich bedroht haben. Das ist zwar nicht oft vorgekommen, aber es ist halt vorgekommen. Die Polizei ist dann gekommen und hat mich beschützt. An den damaligen Revierleiter Braun habe ich noch eine sehr, sehr gute Erinnerung. Im Prinzip machte der auch schon ein Stück weit soziale Arbeit. Der hat sich dann immer mäßigend eingeschaltet, wollte die Konflikte reduzieren, tauchte dann auch oft im Wohnheim auf, weil er dann auch die Aufgabe hatte, Leute zu suchen, die ausgeschrieben waren für die Fahndung.

HW: Was wissen Sie zur Vorgeschichte? Auf wessen Initiative hin wurde das Wohnheim gegründet?

AS: Das war ja erstmal von der Planung her ein sogenanntes Notkrankenhaus. Die Umnutzung in Anführungsstrichen, die war wohl organisiert, weil die Wohnungslosigkeit von Alleinstehenden zunahm, und das hat dann dazu geführt, dass 1964 das Wohnheim gegründet wurde. Früher war ja meines Wissens das Obdachlosenasyl in dem Hochbunker am Pragsattel. Das Schlimmste waren diese Acht-Betten-Zimmer. Das war ziemlich brutal. Wobei es Doppelstockbetten waren. Also schliefen 16 Obdachlose in einem Zimmer.

HW: Ich erinnere mich noch, wie bei uns im Hochhaus genau gegenüber dem Obdachlosenasyl eine Vertreterin des evangelischen Kirchengemeinderats Unterschriften sammelte, um den Bau dieses Wohnheims zu verhindern, wohl auch weil das dem Image dieser Gegend schaden und den Wohnwert herunterdrücken würde.

AS: Was ja nicht ganz unbegründet war.

HW: Mein Bruder, der damals gerade volljährig war, ist jedenfalls sofort aus der Kirche ausgetreten. Er meinte: da predigen sie sonntags Mitleid mit den Schwachen und Schwächsten und dann wollen sie verhindern, dass die hier unterkommen können. – Ich erinnere mich noch an das an den Bahngleisen liegende Hofbräustüble. Ich musste da immer für meinen Vater Bier holen, und da waren viele dieser Obdachlosen drin. Da habe ich die seltsamsten Leute angetroffen, da waren noch vom Krieg her viele Versprengte darunter. Man hörte die fremdesten Dialekte und die seltsamsten Geschichten. Einer behauptete, er sei Philosophieprofessor in Leipzig gewesen.

AS: Ja, das Hofbräustüble war natürlich so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt dieser Szene. Zum Teil tranken die sich da voll. Und da gab es dann einen Treff im Schlossgarten und an der damaligen Haltestelle Neckartor. Und für uns als Mitarbeiter des Wohnheims Nordbahnhofstraße war das insofern ein Ärgernis, weil es ja ein Alkoholverbot im Wohnheim gab. Und die haben sich volllaufen lassen und sind dann gewissermaßen sturzbesoffen bei uns im Wohnheim aufgetreten, so am Abend, und das hat dann manches mal zu erheblichen Auseinandersetzungen geführt, mit denen wir schlecht umgehen konnten. Es gibt da aber auch ein Foto, da haben die Obdachlosen dort getanzt. Die eine Frau, diese „Pennerin,“ kenne ich heute noch. Also es war eine sehr gemischte Situation.

HW. Und da gab es in der Unterführung noch die „Tunnelschenke“, die eigentlich für die Arbeiter des Güterbahnhofs da war.

AS: Also meine Beziehung zu dem Stadtteil lief vor allem über dieses Hofbräustüble. Und dann hatte ich angeregt, so eine Art Nachbarschaftsausschuss zu gründen, weil ja die Nachbarschaft unter diesen Zuständen auch gelitten hat. Die sind ja auch in den Pragfriedhof gegangen und haben sich dort ihre Biwaks aufgebaut. Diese ganze Reformbewegung, die wir damals versucht haben, war ja, so war unsere Idee, ohne die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger nicht möglich. Ich habe damals mit dem Kontakttheater so eine Arbeit mit der Nachbarschaft organisiert. – Der Reformimpuls ging ja von zwei Überlegungen aus. Also einmal war`s ja damals so, dass die Bundesgartenschau „drohte“ und der liebe Bürgermeister hatte sinngemäß gesagt: Also wir müssen, wenn das dann mal losgeht mit der Bundesgartenschau, dafür sorgen, dass das „Pennerproblem“ gelöst wird. Das war die Bundesgartenschau 1977. Rommel hat sich dann sehr stark eingesetzt für die Reformbewegung. Es war schon so, dass er ein Interesse hatte, das System der Obdachlosenhilfe in Stuttgart zu reformieren. Zum Schluss war er dann unser politischer Gegner. Aber das ist dann ein anderes Kapitel.

SK: Das Ziel war dann, die Leute wieder zu integrieren, oder dass die selbständiger werden, Arbeit finden.

AS: Das Ziel war erst mal, die Lebensbedingungen in den Heimen zu normalisieren. Wir hatten ja damals, wenn ich mich richtig erinnere, ein dezentrales Frauenheim. Wir haben ja die Frauenabteilung rausgelöst und dann eine Dependance gegründet in der Bismarckstraße. Das ist wesentlich auch durch meine Initiative zustande gekommen, und ich war ja dann gleichzeitig Chef in der Bismarckstraße.

HW: Was bedeutet Normalisierung der Lebensbedingungen?

AS: Einzelzimmer, also zumindest die Verdichtung zurückzunehmen. Mir hat das damals nicht gereicht. Ich habe gesagt: Liebe Leute: Wohnungslosigkeit bekämpft man durch Wohnungen, und wir müssen eigentlich darauf hinarbeiten, dass man gar keine Heime mehr braucht. Und das hat ja dann schon in den ersten Monaten dazu geführt, dass ich gefragt habe: Wie kommen wir jetzt in die Gänge mit der Entwicklung der ambulanten Hilfen. Das ging los mit dem Ehepaar Knittel. Peter Knittel wurde von meinen Männern in die Männerabteilung gebracht und Renate Knittel in die Frauenabteilung. Und da hatte ich ein Problem damit. Das kann doch nicht wahr sein, dass wir ein Ehepaar, das gewohnt ist, zusammen zu leben, dass wir die dann in getrennten Situationen unterbringen. Da habe ich gesagt: Wir müssen jetzt sofort anfangen mit der ambulanten Hilfe. Dann habe ich mit der Hochschule hier in Esslingen ein studentisches Projekt gegründet. Und dann haben wir Schritt für Schritt einen Teil der Klientel ambulant versorgt. Und das hat dann dazu geführt, dass 1977 der Verein Ambulante Hilfe e.V. gegründet wurde. Unsere Strategie war ja die: Ein Unternehmen der Sozialarbeit, das sich mit Wohnungslosigkeit beschäftigt, das muss in den Wohnungsbau einsteigen. Es hat keinen Zweck, dass wir nur abhängig sind von dem Angebot auf dem Wohnungsmarkt, sondern wir müssen selbst Angebote kreieren. Und das hat ja dann mehr oder weniger funktioniert. Also die Ambulante Hilfe e.V. mit Sitz in der Kreuznacher Straße hat ja dann eine Wohnungsbauabteilung gegründet, klein aber fein. Jetzt habe die so um die 150 Wohnungen, verteilt auf sieben Häuser.

SK. Das gibt`s nach wie vor?

AS: Ja. Ich war Gründungsvorsitzender. – Ich war ja später beim Bundespräsidenten eingeladen, weil sich das herumgesprochen hatte, dass ich in der Wohnungslosenhilfe der Innovator war, und der hat uns dann gleich ausgefragt, was sich entwickeln müsste, jetzt. Ich habe gesagt: Wohnungsbau in der Hand der Sozialarbeit und die kommunale Sozialplanung muss optimiert werden. Das Bindeglied zwischen der sozialen Arbeit und den Klienten ist ja die kommunale Sozialplanung. Das hat die Stadtverwaltung auch relativ früh begriffen. Die haben damals ein Gutachten in Auftrag gegeben bei dem Büro für Sozialforschung/Sozialplanung, das ist die Rotraut gewesen. Die hat diesen ganzen notwendigen Bereich der Transformation relativ genau beschrieben. Nur was sie damals, in ihrem ersten Entwurf nicht so richtig gewürdigt hat, das ist die ambulante Hilfe.

HW: Was versteht man denn genau unter ambulanter Hilfe?

AS: Also ambulante Hilfe wird heute Housing First genannt. Die Strategie ist ganz eindeutig: Wohnungslosigkeit beseitigt man durch eine Wohnung. Und deshalb musst du den Wohnungslosen eine Wohnung anbieten. Es ist aber so, dass einige Obdachlose einen zusätzlichen Betreuungsbedarf haben. Deshalb organisierst Du im Falle eine Falles die Betreuung in die Wohnung. Und die haben natürlich Beratungsstellen, weil sich das ja in der Szene rumspricht. Und dann gehen sie. um die Betreuung und Wohnung zu kriegen, in die Beratungsstelle. Und dann geht es weiter. Dadurch dass wir aber nicht alle unterbringen können, weil auch die ambulante Hilfe nur einen beschränkten Zugang in den Wohnungsmarkt hat, muss man was anbieten für die Leute, die nach wie vor auf der Straße leben und deshalb macht die Ambulante Hilfe e.V. unter anderem diesen Kältebus. Oder sie hat in Bad Cannstatt ein Café für die Wohnungslosen, oder sie organisiert die Unterbringung in Hotels. Die Ambulante Hilfe e.V. hat zwei Hotels, das nennt man heutzutage „Sozialpension“. Aber die Grundstruktur haben wir 1975 im Wohnheim gelegt, und das hat sich eben herumgesprochen und das funktioniert heute noch.

HW: Das erinnert mich daran, wie wir Mitte der 70er Jahre einfach so auf die Idee kamen, mit ansonsten peinlich versteckten geistig und körperlich Behinderten nach außen zu treten und sie zum Beispiel in Diskotheken mitzunehmen. Wir haben die dann in ihren Rollstühlen auf der Tanzfläche hin und her geschoben. Die Mitte der 70er Jahre war voll von solchen Reformideen. Die lagen sozusagen in der Luft.

AS: Also wir haben viel gelernt von der Psychiatriebewegung. – Die Zugänge zum Quartier liefen über die schon erwähnte Kneipe und dann über den Versuch, die Bürgerschaft zu integrieren.

HW: Hat das geklappt?

AS: Es hat schon geklappt. Die ehemaligen Mitglieder des Nachbarschaftsausschusses waren zum Teil enttäuscht, dass ich dann 1977 weggegangen bin, sie haben schon begriffen, dass der Strunk was Gutes will und dass der Strunk sich auch um die Nachbarschaft kümmert. Eine Frau, da kann ich mich noch sehr genau erinnern, die hat ein Gedicht geschrieben zu meinem Abschied. Das hat mich schon sehr gerührt.

HW: Waren das Leute aus dem unmittelbaren Umfeld, aus den Hochhäusern und so?

AS: Ja, ja, und wir haben einen soliden Kontakt zur Gemeinde entwickelt, zur evangelischen Kirche. Das hängt damit zusammen, dass der damalige Pastor gleichzeitig Stadtrat war.

HW: Pfarrer Cramer?

AS: Genau, und dass der unsere Arbeit sehr unterstützt hat. Dann gab es eine Nachfolgerin, die Waltraut Müller, die hat uns dann auch sehr unterstützt. Also ich habe andere Erfahrungen mit der Kirche gemacht als Ihr Bruder.

HW: Die Sache, von der ich gesprochen habe, das war etwa 1963. Das war eine Kirchengemeinderätin, die sich mittels einer Unterschriftenliste für die Verhinderung des Wohnheims eingesetzt hatte. Schon im Vorfeld dieses Neubaus hat es ja im Haus zwei Parteien gegeben. Die meisten haben wohl die noch in den Ruinen hausenden Obdachlosen verachtet, und einige andere, wie meine Eltern zum Beispiel, standen eher auf dem Standpunkt, auf Schwache haut man nicht drauf. Wir haben diesen Obdachlosen ab und zu sogar Essen in die Ruine rübergebracht. Das war also noch in der Phase, bevor das Heim gebaut wurde. Da lebten die noch in Unterschlupfen, provisorisch zugehängt mit Teppichen. – Warum sich die einen so, die anderen so verhalten haben, das war ja in etwa dieselbe soziale Schicht, alles Eisenbahner, ist mir bis heute ein Rätsel. Auch als die ersten Gastarbeiter mit ihren Pappkartons den Galgenbuckel hochgekommen sind, ist mir noch gut in Erinnerung. Einige Kinder haben denen dann so was wie „Spaghettifresser“ zugerufen. Die lagen dann auch oft auf den Bänken des Spielplatzes, wo auch die Penner rumlagen.

AS: Also das war ein ewiger Reibungspunkt: der Spielplatz. Und der Druck vom Autohaus Staiger direkt gegenüber, der war immens. Der Chef hatte ja solide Kontakte zu dem damaligen Sozialbürgermeister Thieringer . Und wenn´s dann mal besondere Konflikte gab, hat Staiger den Thieringer benachrichtigt, und der hat dann bei mir angerufen und gesagt, also was ist da los, Strunk, kannst du da nicht mal irgendwie für Ruhe sorgen. Zu Thieringer hatte ich ein sehr gutes Verhältnis.

HW: Und, hat´s geklappt?

HW: Also, es war schon wichtig, dass der gute Thieringer sich da drum gekümmert hat. Das ist ja auch Teil der Strategie gewesen. Man kann nicht einfach die Geschäftswelt brutal konfrontieren mit dem, was da los ist, sondern man muss sich schon drum bemühen, damit da so ein bisschen Frieden herrscht.

SK: War das eigentlich das einzige Heim für ganz Stuttgart, oder gab´s in den anderen Stadtteilen auch so was?

AS: Das Heim in der Nordbahnhofstraße war ja die zentrale Anlaufstelle. Jeder, der Hilfe brauchte, musste erstmal zur Nordbahnhofstraße. Und dann wurden die verteilt. Und wir hatten da eine Menge zusätzlicher Angebote, zum Beispiel bei der Evangelischen Gesellschaft oder beim Caritasverband, das hat schon geklappt. Die Kooperation mit den anderen Trägern der freien Wohlfahrtspflege war gut, die ist auch heute noch traditionell gut. Die Ambulante Hilfe e.V. habe ich dann ins Diakonische Werk geführt und das hat der gut getan. Ich habe dann ja zunehmend so eine Art linke Theologie entwickelt und war dann auch wohl als Initiator auch für den Gang in die Diakonie der angemessene Ansprechpartner. – Noch was zum Nachbarschaftsausschuss, zur Kooperation mit der Kirchengemeinde: Es gab einen Klienten, der Sebastian Blei, der ist aus München gekommen, weil der damalige Polizeipsychologe Sieber, der mich dann hier auch beraten hat, mit dem einen guten Kontakt hatte. Der Sebastian Blei war einer der wenigen Wohnungslosen, die ihre Karriere künstlerisch ausgedrückt haben. Sebastian hat auch zum Teil in der Nordbahnhofstraße gemalt. Den Kontakt habe ich sehr konsequent gepflegt, weil ich der Meinung war, so etwas muss man unterstützen. Und das hat dazu geführt, dass wir mit Sebastian Ausstellungen gemacht haben bei Wendelin Niedlich. Er hat ja zum Beispiel eine Serie gemacht „Der Penner auf Wohnungssuche in Stuttgart“. Die habe ich heute noch und werde sie wahrscheinlich auch dem Stadtarchiv übergeben. Dann hat er eine Serie gemacht „Das Pennerevangelium“. Und er hat eben auch schriftstellerisch gearbeitet. Wendelin sagte, er glaubt, dass der Sebastian eigentlich ein besserer Schriftsteller ist als ein Zeichner.

SK: Der Sebastian Blei war vermutlich Autodidakt?

AS: Nein, das ist so ein bisschen grenzwertig. Der hatte eine Ausbildung als Werbegraphiker in München.

HW: Gibt es da noch erschließbares Material seiner künstlerischen und schriftstellerischen Arbeit?

AS: Das ist ja mein Anliegen. Ich habe noch massenhaft auch handschriftliche Sachen von ihm. Ich bin ja nun auch nicht mehr der Jüngste und muss sehen, wie ich mit dem Nachlass irgendwie in die Gänge kommen. Aber es ist halt so, dass sich eigentlich niemand so richtig dafür interessiert. Das ist ja so ähnlich wie bei Knastkunst, wer sammelt schon Knastkunst? Aber ich bin da jetzt am Ball. Und der Sebastian hat auch einen Artikel in der Zeitschrift „Gefährdetenhilfe“ gemacht über den Zustand der Penner in Deutschland. Und da hat er Stuttgart noch relativ sanft gelobt. Es gab damals noch Pennen, die waren noch katastrophaler als das, was wir da angeboten haben. Es gibt ein Buch, das ist glaube ich dann verboten worden aus datenschutzrechtlichen Gründen, weil man da die einzelnen Fälle identifizieren konnte – das war irgendwie eine Schweinerei.

AS: (zeigt uns Arbeiten). Solche Arbeiten macht Sebastian ...

HW: Der lebt aber nicht mehr?

AS: Nein, der ist dann mir hinterhergefahren nach Bremen – ich bin ja dann nach Bremen gegangen. – Das hier ist das erwähnte Buch mit Einzelfällen, die der damalige Psychologe Wormser dargestellt hatte. Und da ist auch was über den Sebastian drin. – Ist nicht schlecht, was der so macht. Das ist so aus den 60er, 70er Jahren.

SK: Und der Blei konnte nicht irgendwie wieder Fuß fassen, in einer Agentur oder so.

AS: Nein, der war ja mehrfach drogenabhängig. Das ist alles nicht so einfach. – Das hier sind Drucke. Die Originale haben wir bei Wendelin ausgestellt

SK: Wo hat er die dann gemacht? In dem Wohnheim?

AS: Ja, die hat er im Wohnheim gemacht. Wir stellten ihm einen Raum zur Verfügung. Er war halt ein wohnungsloser Künstler.

HW: Gibt´s da eine Monographie seiner künstlerischen Arbeiten?

AS: Also, ich habe da eine Ausstellung kuratiert, im Württembergischen Kunstverein, die hieß „Kunst im Kontext der Wohnungslosigkeit“, und da im Katalog ist eine Serie drin „Der Tote im See“. – Sebastian war ja auch beteiligt an der Hausbesetzerszene.

SK: Aber das jetzt doch eher die Ausnahme, dass jemand so produktiv ist und auch in der Qualität?

AS: Ich habe einen Verkauf vermittelt, an das Museum in Stuttgart. Das müsste mal so richtig professionell aufgearbeitet werden. – Hier zum Beispiel, das können Sie mitnehmen. Das ist ein legendäres Bild. Der hat das Bild gemacht, als ich dann in Bremen war und ihn da jetzt integriert habe. Das Bild heißt „Reso-Flipper“, eine Abkürzung für Resozialisierungsflipper.

HW: Ein Flipperautomat. – Haben Sie schon mal das neue Wohnheim an der Friedhofstraße gesehen, das alte wurde ja im Zuge der Neubebauung des ehemaligen Martinsviertels abgerissen. Das sieht ja sehr edel aus.

AS: Ja, ich war schon drin.

SK: Das ist ja schon ein commitment, so ein Haus zu stiften.

AS: Ja, es gibt immer wieder Leute, die viel Geld haben und sich dann sozial engagieren.

HW: Wir interessieren uns ja für die Veränderungen, die dieser Stadtteil im Zuge des Projekts Stuttgart 21 erfahren wird, aber auch für die Veränderungen, die in der Vergangenheit erfolgt sind. Ich erinnere mich noch, wie die Eisenbahner aus dem Nordbahnhofviertel in vermeintlich bessere Gegenden umgezogen sind und wie das dann später arabisiert und als sozialer Brennpunkt eingestuft wurde. Und könnte mir vorstellen, wie das drum herum entstehende neue Stuttgart – das Rosensteinviertel etc. – aus diesem Viertel vielleicht eine Art Quartier Latin machen wird. Backsteinromantik für gestresste Angestelltenseelen. Uns interessiert dabei auch die jetzige Situation der Wohnungslosen, wie sie aus der Innenstadt verdrängt werden sollen. Joe Bauer schreibt ja immer wieder darüber, wie zum Beispiel die Bänke so umgestaltet wurden, dass man auf ihnen nicht mehr schlafen kann. – Nimmt eigentlich die Zahl der Wohnungslosen zu?

AS: Ja, die nimmt zu. Da gibt es die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslose mit Sitz in Berlin, die geben regelmäßig Statistiken raus. Und in einer Nummer der Zeitschrift „Gefährdetenhilfe“, die heißt jetzt „Wohnungslos“, da gibt es einen ziemlich umfangreichen Aufsatz über meine Arbeit. Die sagen ja: Der Strunk hat diesen Paradigmenwandel in der Wohnungslosenhilfe organisiert. (In: Nr. 1 / 2 aus 2023, S.25 – 43)

HW: Wie unterscheidet sich dieses neue Paradigma vom alten?

AS: Das alte Paradigma spricht von „Gefährdetenhilfe“, das heißt, das sind gefährdete Leute und man muss an der Gefährdung arbeiten, und wenn die Wohnungslosen dann wohnfähig seien, haben sie ein Anrecht auf eine Wohnung. In unserer Arbeit seit 75 argumentierten wir genau umgekehrt: Jeder hat im Prinzip ein Recht auf eine normale Wohnung, und wenn er dann noch Probleme hat, dann muss man das in die Wohnung organisieren. So simpel ist das.

SK: Wie ist das eigentlich rechtlich? Es gibt ja das Recht auf Wohnen oder den Artikel 1 im Grundgesetz. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Warum wird das so verdrängt und vernachlässigt, warum liefert man die Mieterinnen und Mieter so ans Messer, zum Beispiel jetzt mit den Indexmieten ...

AS: Das hängt einfach damit zusammen, dass unser Wohnungsmarkt so strukturiert ist. Die Wohnung ist ja auf der einen Seite ein soziales Gut und auf der anderen Seite ein Renditeobjekt. Das ist halt so. Und deshalb ist der Renditeaspekt für viele Wohnungsunternehmen so dominant. Die wollen Kohle machen.

SK: Das wäre doch das erste, das auszuhebeln.

AS: Das ist richtig, aber politisch naiv. Wir kriegen das nicht hin. In dem Gespräch mit dem Bundespräsidenten war das eine zentrale Forderung von mir: Wir brauchen eine neue Gemeinnützigkeit und der Wohnungsmarkt muss ein Stück weit – was den Rendite-Aspekt betrifft - reformiert werden, zumindest was die Versorgung der Menschen angeht, die nicht so viel Geld haben. Der Präsident soll sich doch mal einsetzen dafür.

AS: Da hat er gesagt, so einfach ist das leider nicht. – Also da gibt es massenhaft Aufsätze von mir zu diesem Dilemma. – Ich wollte noch darauf aufmerksam machen, dass der Polizeipsychologe Sieber mich ja in entscheidenden Situationen sehr gut beraten hat. Der war ja nun Experte im Umgang mit Gewalt. Und ich hatte zwei Fälle, wo ich dann Unterstützungsbedarf brauchte, weil mich damals die kommunistische Sozialarbeit attackiert hat. Da gab es unschöne Auseinandersetzungen, vor allem über den KBW. Die haben gemeint, der Strunk ist ja einer von denen, die den Klassengegensatz aufweichen und die müssen wir sozusagen neutralisieren politisch.

HW: Was wollten die?

AS: Ich hatte ja damals mit dem Geld des Diakonischen Werkes in Feuerbach eine leerstehende Fabrik gekauft, die Tunnelstraße 18, und da wollten wir Wohnungsbau für die Wohnungslosen machen. Die Leute, die über den KBW politisiert worden sind, die wollten da ein reines Selbsthilfeprojekt machen. Die haben dann das Haus besetzt. Ich hab dann gesagt, nee die Polizei hol ich nicht. Da hat sich der Sebastian auch drum gekümmert, also er hat den Prozess graphisch begleitet. Und der Georg, der Polizeipsychologe, hat mich da exzellent unterstützt. Und dann dieser Hinweis, ich solle mich doch um diesen Sebastian kümmern.

HW: Es wird ja immer wieder berichtet, dass viele Wohnungslose es ablehnen, in eine Wohnung einzuziehen, vielleicht weil sie die Vorstellung davon verloren haben, wie so was geht, und lieber auf der Straße oder im Wald verbleiben wollen.

AS: Also Moment, Moment, So was wird berichtet. Sebastian hat auch zum Schluss eine Situation konstelliert, wo er nun wirklich nicht wohnen wollte. Aber ich glaube, solche Aussagen sind, obwohl sehr selten, darauf zurückzuführen, dass die Sozialarbeit nicht intelligent genug ist im Umgang mit diesen Menschen. Das ist ja der Ausdruck eines Stigmatisierungsprozesses. Ich habe dann richtig mit dem Sebastian kämpfen müssen, dass der mal versucht, eine normale Wohnung zu belegen. Das ist uns dann auch gelungen. Wir haben Sebastian in Bremen eine Wohnung angeboten über GEWOBA. Und der hat das richtig geschätzt. So langsam ist er dann „normaler“ geworden und hat eine hohe Produktivität in seiner Wohnung entwickelt. Aber irgendwann ging das nicht mehr. Wenn einer jahrzehntelang säuft, und zwar in einem Ausmaß, geht ja das Gehirn kaputt. Und Sebastian hatte zum Schluss ein Korsakow-Syndrom und das ist ja schon eine herbe Erkrankung – und dann mussten wir ihn halt in einem Heim unterbringen, bei der Arbeiterwohlfahrt. Das hat er dann auch geschätzt.

SK: Da gab es ja dann sicher auch viele Männer mit Hafterfahrung, die vielleicht aus dem Gefängnis kamen und sich erstmal nicht orientieren konnten.

AS: Natürlich gibt es Penner, die mal im Knast saßen aber statistisch gesehen ist das keine bedeutende Gruppe. Die meisten fahren ein, weil sie schwarzgefahren sind. Und irgendwann hatte der Staat dann die Schnauze voll und sagte, jetzt muss der mal in den Knast.

HW: Was führt denn eigentlich auf die Straße, in die Obdachlosigkeit?

AS: Die Biografien entgleisen, und die Entgleisungen haben verschiedene Ursachen. Alkohol kann eine Rolle spielen, aber auch Beziehungsknatsch oder eine Zwangsräumung. Ich finde es ja ganz interessant, dass jetzt das Institut für Menschenrechte in Berlin sich mit dieser Frage beschäftigt, ob Zwangsräumungen überhaupt menschenrechtskonform sind. Das ist eine Frage, die bisher nicht genügend diskutiert wurde. Ich finde gut, dass die sich jetzt endlich darum kümmern. Wenn einer von diesen drei Faktoren eintritt, dann ist es halt so: Menschen, die mehr Geld haben, die, wie wir hier, etwas besser versorgt sind, kriegen das im Zweifelsfall in den Griff. Aber die Menschen, die der Armutspopulation angehören, für die ist das eine Katastrophe. Wir in der fortschrittlichen Sozialarbeit sagen ja: Es gibt da diese Grundstörung in der Biografie, aber das Entscheidende ist: plus Armuts- oder Reichtumslage.

(Es folgte eine Überschau von Fotos, die teilweise im Hofbräustüble aufgenommen wurden, teilweise die Biwaks auf dem Pragfriedhof zeigen)

Andreas Strunk
Zur Person
Andreas Strunk vertrat an der Hochschule Esslingen in der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege bis zum Eintritt in den Ruhestand (Sommersemester 2007) die Fächer "Sozialpädagogisches Handeln für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten" und "Organisationswissen für die Soziale Arbeit". Jetzt ist er als Berater in unterschiedlichen Projekten der Sozial-, Wohnungs- und Kulturwirtschaft unterwegs. Auftraggeber sind auch Träger der Sozialen Arbeit in Österreich und Italien. Sein beruflicher Werdegang: Zunächst "Studium Generale" am Leibniz-Kolleg in Tübingen und Aufnahme des Studiums der Psychologie und Theologie an der Universität Tübingen. Nach Abbruch des Theologiestudiums folgte an der Universität Stuttgart ein Architekturstudium (Schwerpunkt: Orts-, Regional- und Landesplanung) mit einem Forschungsauftrag des Sozialministeriums Baden-Württemberg zur "Wohnraumversorgung ausländischer Arbeitnehmer in Baden-Württemberg" als Diplomarbeit. Berufliche Etappen waren dann: Ausarbeitung eines Grundkurses Kommunikationstechnik für die Architekten- und Planerausbildung, Gutachten für das Sozialamt Stuttgart im Bereich der Altenhilfe, Leiter des Obdachlosenasyls in Stuttgart und Entwicklung ambulanter Hilfen, Sozialplaner für die Stuttgarter Wohnungslosenhilfe, Gründungsvorsitzender des Vereins „Ambulante Hilfe“ in Stuttgart, Ausbildung zum Supervisor an der Akademie für Jugendfragen in Münster, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt (u. a. Projektentwicklung zur Integration behinderter Kinder im Kindergarten), Gesamtleiter der Hans-Wendt-Stiftung in Bremen (Jugendhilfeträger). Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg für "Lösungsorientierte Beratung und Supervision in pädagogischen Handlungsfeldern". Weiterbildung zum Case Manager (DGCC-Zertifikat) in Stuttgart.
In Bremen erhielt er gemeinsam mit der Rechtsanwältin Hella Stell einen Förderpreis des Senates für das Projekt "Ambulante Hilfe für junge Haftentlassene".
Promotion zum Dr. phil. an der Universität Bremen (Thema: Innovation im Sozialleistungssystem durch Planung und Management). In den Jahren 2001-2004 unterbrach Andreas Strunk seine Lehrtätigkeit an der Hochschule Esslingen, weil er von der GWE AG (einem Beteiligungsunternehmen der BBT, der Bausparkasse Schwäbisch Hall und der Aareal-Bank) im Bereich der Wohnungswirtschaft den Auftrag erhalten hatte, den Aufbau einer Abteilung Sozialmanagement und Organisationsentwicklung dort zu übernehmen.
Andreas Strunk war Gesellschafter der GISA mbH (Gesellschaft für Innovation, Systementwicklung und Soziale Arbeit) in Wernau/Neckar. Dort begleitete er u. a. Projekte der Organisationsentwicklung, Aufbau von Controllingvorhaben und Arbeit mit Großgruppen (Zukunftskonferenz, Zukunftswerkstatt, open space, Appreciative Inquiry). Für Führungskräfte in den Bereichen „Soziales“ und „Kultur“ ist er als Coach tätig. Für Kommunen hat er u. a. Jugendpläne ausgearbeitet. Für die Wohnungswirtschaft leitet er Projekte an der Schnittstelle von Wohnungsversorgung und Sozialer Arbeit. Aktuell berät er den Vorstand der Rostocker Stadtmission u. a. in Sachen Wohnungsnotfallhilfe.
Ehrenamtlich leitete er als Vorstandsvorsitzender den Verein „Zukunft für Kinder und Jugendliche JUKI“ im Diakonischen Werk ab der Zeit der Gründung (1998) bis 2011. Der Verein betreibt u.a. das Ferien- und Erlebnisdorf Rappenhof mit einem angeschlossenen Circus in Gschwend. Für den Württembergischen Kunstverein kuratierte er die Ausstellung "Kunst im Kontext von Wohnungslosigkeit".
In der Genossenschaft „Pro Wohnen e.G.“ war Andreas Strunk Aufsichtsratsvorsitzender.
Andreas Strunk ist mit anderen Gründungsherausgeber der Zeitschriften: "SOZIALwirtschaft" und "SOZIALwirtschaft aktuell" im Nomos Verlag, Baden-Baden, die beide nun von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. herausgegeben werden. Jetzt ist Andreas Strunk Mitglied des Beirates beider Zeitschriften und gibt für den NOMOS-Verlag Fachbücher heraus.
Er hat zahlreiche Veröffentlichungen aus unterschiedlichen oben beschriebenen Arbeitsfeldern verfasst. Einen Schwerpunkt bilden Themen der Wohnungsnotfallhilfe. Sein umfangreiches privates Archiv hat Andreas Strunk als Vorlass (Bestand 2837) an das Stadtarchiv Stuttgart abgegeben. Das zugehörige Findbuch, in dem die vorhandenen Materialien nachgewiesen und inhaltlich beschrieben sind, wird im Internet unter stadtarchiv-stuttgart.findbuch.net einsehbar sein, ebenso der von Andreas Strunk verfasste ausführliche Erläuterungstext zum Bestand.

(Quelle: https://www.andreasstrunk.de/index.php?sprache=de&L0=Person)

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