Schönen guten Abend, meine Damen und Herren. Wir haben im Lauf des Abends gelernt, wo wir sind. Womöglich kommt es nicht von ungefähr, dass an diesem Ort heute Waschküchen stehen. Vermutlich hat das mit dem Gewissen und den weißen Westen zu tun. Diese Gegend hier steht symbolisch für die Vereinnahmung einer Stadt. Auch für die Verdrängung und Verleugnung von Geschichte. Ich unternehme jetzt eine kleine Zeitreise in die Gegenwart, in die Nachbarschaft des Nordbahnhofviertels, dem derzeitigen Epi-Zentrum der Spekulationen und Erdbewegungen zu Gunsten der internationalen Immobilienhaie. Meine kleine Betrachtung führt u. a. in eine Gegend namens Europaviertel, wo man sehen kann, wie der sogenannte Fortschritt nicht in die Zukunft führt, sondern in die Konfektionsbauweise der DDR mit ihren austauschbaren Serien-Dekor-Teilen.
Gott würfelt mit.
Wie kaum eine andere Weltstadt zwischen Hängen und Würgen hat sich Stuttgart als globales Dorf herausgeputzt. Ein Blick in den zerstörten Vorgarten unseres Bahnhof-Torsos genügt. Es ist Sonntag, im Biergarten neben der Blechbude der Grundwasser-Manager spielen Die Kirchberger, und wie immer, wenn ich auf eine Tanzkapelle treffe, singt sie unverzüglich "Mendocino". Merkwürdigerweise sind um mich herum auch einige sehr junge Menschen in der Lage, "Mendocino" auf Deutsch mitzusingen, und ich frage mich, welche grüne Kindergärtnerin da unseren heimischen Gangsta-Rappern den Respekt verweigert hat.
Im Biergarten tanzen sie Foxtrott. Einige Damen haben ihren Körper in die heute weit verbreiteten bayerischen Sadomaso-Rüstungen für Böblinger Blondinen gezwängt. Es sind die Botinnen des schwäbischen Volksfestes auf dem Cannstatter Wasen. Hätte je eine Frau mit mir Foxtrott im Dirndl getanzt, wäre mein Leben aufregender verlaufen. Ich säße heute im Knast von Stammheim.
Wer vom Bahnhof Richtung Norden geht, gelangt über die Steinwüste hinter der Landesbank an einen Ort des Grauens. Die Rathaus-Herrschaften haben ihn bescheiden „Mailänder Platz" getauft. Hier ist die neue Stadtbibliothek. Eingekeilt zwischen den Konfektionskästen der Investoren steht sie herum wie ein architektonisches Alibi. Inzwischen mit der Wirkung eines Dixi-Klos.
Der Volksmund hat das Gebäude Bücher-Knast getauft. Wir sehen einen Würfel. Der Würfel an sich ist das Symbol für das neue Stuttgart: Willkommen in der Zocker- und Spekulanten Hauptstadt Deutschlands.
Das Innenleben des literarischen Hochsicherheitstrakts wurde museumshaft pompös und klosterhaft ausschweifend gestaltet – leider hat hat davon die Lesebühne nichts abgekriegt. Der Blechcontainer im Untergeschoss erinnert an eine Leichenhalle und ist im Prospekt mit gutem internationalem Feeling als Showroom ausgewiesen. Unter Showrooms versteht man weltweit Räume, in denen Firmen Autos, Waschmaschinen und Heizdecken verscherbeln.
Dank der guten Aussicht aus der Bibliothek lässt sich der komplette Ideenreichtum heimischer Baukunst überblicken, das Stuttgarter Spannungsfeld zwischen Genie und Wahnsinn: Auf dem Schlossplatz steht ein Kubus, hinter dem Bahnhof ein Würfel. Man nennt dies auch die Verweigerung von Architektur.
Bei der Bücherei haben die Baumeister ihre Ideenlosigkeit mit temporärem Licht-Design kaschiert. Die Farbe der elektrischen Beleuchtung führt uns in die Zukunft von Stuttgart 21. Unsere Zukunft heißt Blaulicht.
Bei der Bebauung des S-21-Geländes hinterm Bahnhof gab es keinerlei Rücksicht auf die Topografie des Kessels. Darauf kommt es nicht an. Stuttgarter Stadtplanung entsteht am Spieltisch. Um einen mondänen Glanz des Quartiers vorzutäuschen und traditionsreiche Flurnamen in der schwäbischen Dirndl-Filiale zu verhindern, hat man Plätze und Straßen nach europäischen Metropolen benannt. So entsteht Provinz.
Entsprechend fantasiereich klingt die Bezeichnung Stadtbibliothek am Mailänder Platz. Diese Aufgeblasenheit lässt sich jederzeit mit der Hymne der Immobilien-Händler feiern:
This länd is your länd / this länd is – mai land . . . / Von Kaltental bis Luginsland ...
Solche Kalauer rutschen einem raus in einer Stadt, in der man ein Neubauviertel auf dem Killesberg tatsächlich Think Key taufen wollte, ehe man es nach Oettingers englische Brandrede lautsprachemäßig umtaufte. Es hieß jetzt Sinki. Heute trägt das Problemviertel den Namen Killesberghöhen – wohl zur besseren Unterscheidung von den Killesbergtiefen.
Die Gegend rund um die Bibliothek hat man unterdessen als Hommage an unsere stabile Währung und Merkels Politik "Europaviertel" genannt. Ein "Europa-Platz" war in Stuttgart leider nicht mehr zu vergeben. Mit diesem Titel hatte man bereits ein anderes Jahrhundertprojekt geadelt, nämlich die städtebauliche Müllhalde im Zentrum des Fasanenhofs.
Ausgesprochen lustig klingen die Namen der Claims im Europaviertel. Mailänder Platz, Stockholmer Platz, Lissaboner Platz, Pariser Platz. Solche Bezeichnungen spiegeln die Großmannssucht provinzieller Kleingeister nach Weltläufigkeit. Nach mehreren Besuchen des Pariser Platzes, den man mit einem läppischen Wasserspiel und einer Fleischklops-Bar der Hans-im-Glück-Kette aufzuwerten versucht, widme ich diesem Unort einen neuen Namen. Hiermit taufe ich aus Respekt vor Frankreichs Hauptstadt das Europaviertel Quartier Kretin.
Es hätte nahe gelegen, den Platz vor der Bücherei hinter dem Bahnhof nach einem Dichter oder Denker zu benennen, auch wenn Hegel und Schiller schon vergeben sind – und die Nazis Heinrich Heine als Straßennamen getilgt haben. Heinrich-Heine-Straße hieß einst die heutige Richard-Wagner-Straße vor der Villa Reitzenstein. Hitler war die Götterdämmerung bekanntlich näher als das Wintermärchen. Die grün-roten Regierungsnachfolger stört das bis heute nicht.
Einige Menschen, denen das Lachen in dieser Stadt vergangen ist, wären vielleicht glücklich, könnten sie irgendwo über einen Loriot-Platz flanieren. Loriot hat bekanntlich als Kind einige Jahre in Stuttgart gelebt. Leider aber war er ein deutschsprachiger Komiker und erfüllte deshalb nicht den Anspruch der globalen Bauherren von Stuttgart 21 und ihrer italienischen Freunde. Der grüne Oberbürgermeister hat lieber herzhaft mitgeklatscht, als humorfreie Honoratioren kürzlich einen dackelhaften Bronze-Mops auf die Loriot-Gedenksäule am Eugensplatz setzten.
Überhaupt ist es bemerkenswert, was für ein Verhältnis die Rathauspolitiker zu öffentlichen Plätzen und Figuren ihrer Stadtgeschichte haben. Geht der Spaziergänger in der Nachbarschaft des Rathauses in eine schmale Gasse namens Bebenhäuser Hof und lässt dort nach ein paar Schritten den kommunalen Puff Dreifarbenhaus rechts liegen, landet er auf dem Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz (unterhalb der Königstraße).
Mit feinem Gespür für historische Ereignisse haben die Stadtplaner für den Oppenheimer-Platz 1998 an der Rückseite von Karstadt die Umgebung der Tiefgarageneinfahrt gewählt. Beim Anblick dieses Asphaltlochs wünscht sich der Besucher, der Erdboden möge ihn auf der Stelle verschlucken. Dafür wäre ihm keine Parkgebühr zu hoch.
Das Schild Joseph-Süß-Oppenheimer-Platz hat man mit stadtgestalterischer Eleganz direkt an die Einfahrt zur Tiefgarage gestellt, wie einen Wegweiser in den Schlund zu Stuttgarts großer Höllengrube.
Als Instrument zur gewünschten Belebung des Oppenheimer-Platzes stand in den Anfangsjahren eine sogenannte Volksbühne auf dem Gelände, ein Holzpodium, das nach der Ursprungsidee des Grünen-Stadtrats Michael Kienzle von Künstlern bespielt werden sollte. Aus diesem Plan wurde nichts. Sieht man von einem Asia-Imbiss ab, ist der Platz im Umfeld des Bordells heute so tot und gruselig wie eh und je. Leider erfüllte sich nie mein großer Wunsch, über den Theaterbrettern des Volkes könnten eines Tages die Galgenstricke aus dem Rathaus baumeln. Verurteilt im Namen des Volkes wegen Geschmack- und Geschichtslosigkeit zum ewigen Blick von oben herab.
Damit kehre ich vom Stuttgarter Gegenwartsschicksal des Weltbürgers Joseph Süß Oppenheimer zurück ins heimische Europaviertel. Nach den vielen Bemühungen, die Gegend bei der Namensgebung mit beleidigenden Anleihen bei internationalen Metropolen aufzuwerten, musste man auch noch dem Einkaufszentrum ECE einen Namen geben. Dieses architektonische Geschwür krönte man nach einem sogenannten Ideenwettbewerb unter Beihilfe des Kreativ-Tanks Doktor Schuster mit einer einzigartig dämlichen Wortschöpfung: sie lautet Milaneo. Diese Bezeichnung soll vermutlich als Hommage an die Mafia auf italienisches Flair hinweisen, klingt phonetisch aber eher wie die Stuttgarter Lifestyle-Version von Mendocino im Biergarten.
Seinen Anspruch auf Welteroberung hatte der große OB Schuster ja schon etliche Jahre zuvor formuliert, als er die Stuttgarter Olympia-Bewerbung für 2012 mit dem legendären Satz krönte: „Paris, London, New York – wir kommen.“ Scheiße, dachte ich, jetzt zettelt er den Dritten Weltkrieg an.
Sei`s drum. Wenn wir bei gutem Wetter auf das Bibliotheksdach steigen und Mailänder Latte schlürfen, erblicken wir zwanzig Minuten schneller als bisher Ulm. Danach gehen wir zum Biergarten in den zerstörten Schlossgarten und tanzen mit den Kirchbergern den Kriminal-Tango. Nach den jüngsten Ermittlungen der Landeskriminalämter gibt es keine deutsche Großbaustelle mehr ohne den extremen Einfluss der italienischen Mafia.
So gesehen ergibt der Name Milaneo Sinn, und es kann nichts schiefgehen, was unsere Zukunft angeht. Der Spezial-Demokrat Schmiedel, die Ludwigsburger Ein-Mann-Version der bayerischen Niedertrachtenkapelle, hat die Wahrheit ja bereits verkündet: "Über Stuttgart 21“, rülpste er einst, „ruht Gottes Segen.“ – Albert Einstein hat uns gelehrt: Gott würfelt nicht. Nach Schmiedels spirituell getränkten Worten allerdings dürfte klar sein, wie die große Hauptstadt Stuttgardia entsteht: Der Herr im Himmel würfelt mit den Dummen.

Ein Abend zwischen Hochhäusern und Wäschestangen zeigt, dass Haken ihre Geschichte und Geschichten ihre Haken haben.


Eine Nachbetrachtung von Karoline Walter


Stuttgart, auf dem Gelände des so genannten Galgenbuckels am südlichen Ende des Nordbahnhofviertels. Eine kleine Waschküche befindet sich hier, auf deren Vorplatz ein Schirm über einer Wäschestange aufgespannt ist. Darunter befindet sich ein Wäschehaken, der erst heute Morgen mit einer Schicht Blattgold überzogen worden ist, die noch antrocknen muss – ein „minimalinvasiver“ Eingriff der Künstler Stephan Köperl, Harry Walter und Sylvia Winkler, der materiell vielleicht bloß eine Oberfläche betreffen mag, deshalb aber keineswegs oberflächlich ist:

Vielmehr verweist er in die Tiefe der Geschichte, nämlich auf die Hängung Joseph Süß Oppenheimers, Hoffaktor des württembergischen Herzogs Karl Alexander, die 1738 an ebendieser Stelle stattfand. Oppenheimer war unter anderem wegen des Delikts der Münzfälschung angeklagt worden; der Praxis also, Münzen mit weniger Edelmetall anzureichern, als ihrem Nennwert entsprochen hätte. Wohl nicht zuletzt deshalb hatte man für seine Hinrichtung den so genannten „Alchemistengalgen“ gewählt, ein 12 Meter hohes Ungetüm aus Eisen mit vergoldeten Spitzen, das offenbar allein zu dem Zweck erbaut worden war, gegen illegitime Wertschöpfungsversuche aller Art tödliche Exempel zu statuieren. In einem Propagandaartikel der Nazis von 1938 ist in Bezug auf Oppenheimer auch von einem „Geldmacher anderer Art“ die Rede, von einer neuen Form des Goldmachers, des Alchemisten also. Während die Alchemie allerdings schon bis zu einem gewissen Grad experimentelle Forschung war, die den Eigensinn der Stoffe zu berücksichtigen hatte und deshalb auch keineswegs immer zu den gewünschten Resultaten führte, galt für die vordemokratische Gerichtsbarkeit keineswegs „Ergebnisoffenheit“. Joseph Süß Oppenheimer wäre wohl die Todesstrafe erspart geblieben, wäre es tatsächlich irgendwem um die beweisbare Wahrheit gegangen, um die „Natur der Dinge“. Doch der Prozess gegen ihn war ein abgekartetes Spiel mit vorbestimmtem Ausgang. Darauf verweisen nicht zuletzt die Prozessakten im Landesarchiv Stuttgart, die von Hellmuth G. Haasis in seiner Untersuchung „Joseph Süß Oppenheimer genannt Jud Süß“ verarbeitet worden sind und die wiederum die Grundlage bildete für das bislang noch unverfilmte Drehbuch „Joseph Süß “ des Stuttgarter Autors Dieter Fuchs. Aus ihm sollen heute Abend an Ort und Stelle Szenen zum Besten gegeben werden, um an die beinah vergessene Vergangenheit des Galgenbuckels zu erinnern. Aber auch die gegenwärtige Situation, genauer gesagt die baulichen Veränderungen der Nordbahnhofgegend sollen eine Rolle spielen - der Stuttgarter-Nachrichten-Kolumnist Joe Bauer wird darüber sprechen - sowie die Zukunft des Ortes, oder besser gesagt: die mögliche Form der künftigen Erinnerung daran, denn der Stadtplaner und „Souveneur“ Karsten Michael Drohsel wird genau hier und heute ein „Joseph-Süß-Oppenheimer-Archiv“ begründen.

Doch vorher – die beteiligten Künstler befestigen gerade noch Regenplanen an den Wäschestangen, wobei sie die Reihe mit dem goldenen Haken aussparen – ereignet sich auf dem Waschküchenvorplatz noch eine kleine Szene der Art, wie sie kaum vorhergesehen werden kann und die doch die Wirklichkeit erst zur Wirklichkeit machen: Eine alte Frau betritt das Gelände, sie mag um die 80 Jahre alt sein und wohl eine der letzten aktiven Benutzerinnen der Waschküche. Sie fragt nach dem Hausmeister, erzählt dann davon, wie es hier früher so war und fängt schließlich an zu schimpfen. Zunächst auf die hohen Mieten, dann aber auch auf die „Zuwanderer“, aus denen sich die Bewohnerschaft der Hochhäuser mittlerweile fast ausschließlich zusammensetze und die ihre Wäsche von ihren Balkonen auf die Straße flattern ließen, ohne sie nachher je wieder einsammeln zu gehen - weil sie das ja offensichtlich nicht nötig hätten. Ob sie heute Abend zu der Veranstaltung komme, wird sie von einem der anwesenden Künstler gefragt. Eine szenische Lesung werde es da unter anderem geben, zu dem Stuttgarter Fall „Jud Süß“. Ach nein, sie winkt ab; Theater interessiere sie nicht. - Ob sie wohl, hätte sie im 18. Jahrhundert gelebt, zu einer derart spektakulär inszenierten Hinrichtung wie der von Süß-Oppenheimer gegangen wäre, die damals tausende von Schaulustigen anzog?

Ein paar andere Hochhausbewohner kommen aber am Abend doch noch. Überhaupt ist die Zuschauerschaft sehr gemischt; weder Leute aus der Kunstszene noch typisches Theaterpublikum dominieren, als die Schauspieler Daniel Bayer und Karsten Spitzer beginnen, unter der Regie von Jürgen von Bülow Szenen aus dem Oppenheim-Drehbuch zum Besten zu geben. Während es langsam anfängt zu dämmern, erfahren die Zuschauer so Genaueres über das Schicksal des herzoglichen Hoffaktors. Oppenheimer, der anfangs noch unter dem Schutz Karl Alexanders stand, dessen merkantilistisches Wirtschaftssystem er am Laufen zu halten hatte, war nach dessen plötzlichem und unerwartetem Tod der Rache der württembergischen Landstände ausgeliefert, die sich durch den Herzog finanz- und machtpolitisch übervorteilt sahen. Man ließ Oppenheimer von Anfang an auflaufen; gemeinschaftliche Abmachungen waren vor Gericht plötzlich „vergessen“, Oppenheimer stand mit seinen Aussagen ohne Zeugen da und wurde für die unpopulären Steuerpläne des Herzogs allein verantwortlich gemacht. Außer Betrug am Staat wurden ihm auch Vergehen wie die „fleischliche Vermengung mit Christinnen“ vorgeworfen. Die Katastrophe, in die der Prozess mündete, war vorprogrammiert und macht deutlich, dass es genauso gefährlich sein kann, ein erfolgreicher Goldmacher zu sein wie ein erfolgloser: Der Galgen, an dem Oppenheimer gehängt wurde, war ursprünglich für den Alchemisten Georg Honauer errichtet worden – und zwar aus 36 Zentnern Eisen, den dieser für den Herzog Friedrich I. von Württemberg in Gold hätte verwandeln sollen. Für sein Scheitern war er mit dem Tode bestraft worden. Als man 141 Jahre später, am 4. Februar 1738 Oppenheimer daran hinrichtete, ließ man ihn anschließend noch 6 Jahre am Galgen hängen, wo seine sterblichen Überreste von den Vögeln aufgefressen wurden, wie Jürgen von Bülow das Publikum zum Abschluss der Lesung wissen lässt; seine Knochen wurden – wie bei Gehenkten üblich – einfach unter dem Galgen verscharrt. Es gibt nur wenige Weltgegenden, in der eine solche „Himmelsbestattung“ üblich ist, dort allerdings sakralen Charakter hat, darunter Tibet – das Land, in dem die Nazis später bekanntermaßen nach den Ursprüngen der Arier suchten. Sowohl im Christentum als auch im Judentum kann dagegen nur ins Himmelreich gelangen, wer zuvor ein ordnungsgemäßes Begräbnis erhalten hat. Vielleicht als kleine Kompensation dafür, dass Oppenheimer diese Möglichkeit verwehrt wurde, haben die veranstaltenden Künstler auf dem Dach einer benachbarten Garage die Initialen Joseph Süß Oppenheimers „JSO“ mit Klebeband angebracht, so dass diese nun von oben sichtbar ist – adressiert an Instanzen mit Überblick, seien es nun göttliche Mächte, Hochhausbewohner oder die Satelliten von „Google Earth“. Das Wort „Ortsbeschreibung“ erhält so eine ganz neue Bedeutung.

Ortsbeschreibungen oder vielleicht eher urbanistische Kommentierungen sind ansonsten das Metier von Karsten Michael Drohsel. Der gelernte Stadtplaner nennt sich „Souveneur“, was so eine Art Historie treibender Flaneur ist, der die vergessenen Orte einer Stadt mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln bespielt, so dass diese (wieder) Einzug ins kollektive Gedächtnis finden können. Den heutigen Abend nimmt Drohsel zum Anlass, ein „Joseph Süß Oppenheim Archiv“ zu gründen. Es soll dazu dienen, „an die Person und den Casus Süß- Oppenheimer zu erinnern und Möglichkeiten zur persönlichen Aneignung historischer Ereignisse an konkreten Orten anzubieten.“. Die Herstellung materieller Objekte, wie es für einen bildenden Künstler üblich wäre, ist nicht so seine Sache, weil er eher davon ausgeht, dass immer alles schon da ist: Landschaften, Architekturen oder auch Leerstellen. Deshalb präsentiert er dem Publikum heute Abend auch nur eine durchsichtige Plexiglasscheibe von der Form und Größe eines Straßenschilds als „JSO-Archiv“. Jeder gefundene Hinweis soll durch ein mit Hammer und Dorn eingeschlagenes Loch repräsentiert werden: Reduktion statt Produktion. Im Lauf der Zeit soll sich daraus die Signatur Joseph Süß Oppenheimer ergeben: Im Rahmen einer Kunstaktion in Berlin hat Drohsel einmal ein so genanntes „Impulsbüro“ eingerichtet, für das Leute Ideen spenden konnten, allerdings unter explizitem Verzicht auf jede weitere, eigene Verwendung. Es sollte so die Frage aufgeworfen werden, inwiefern auch und gerade etwas Immaterielles einen bleibenden Wert haben könnte. „Ideenrezyklierung“ hat Drohsel dieses Prinzip genannt, in polemischer Anspielung auf das Schweizer Wort für Recycling. In der Schweiz wird das derzeit hochgelobte Prinzip des Upcycling - der Aufwertung gebrauchter Objekte und Materialien durch eine Umnutzung - in snobistisch-marktlogischer Manier ad absurdum geführt, indem man eigens neue Produkte herstellt, um sie nach Gebrauch upcyceln zu können. Ein Hinweis darauf, wie nah Wertschöpfung und Wertvernichtung bisweilen beieinander liegen – eben auch abhängig davon, was man unter einem Wert versteht.
Auch den Text, den der Kolumnist und Stadtflaneur Joe Bauer am Abend liest, könnte man als Auseinandersetzung mit diesem Thema verstehen. Es ist eine Polemik gegen die Stuttgarter Art, sich mit Geld Kosmopolitismus erkaufen zu wollen. Eine Mentalität, die die Stadt in den Augen vieler eben gerade so provinziell macht. So sind etwa die Plätze und Straßen des sich auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs befindlichen Neubaugebiets, dem so genannten „Europaviertel“, allesamt gleichermaßen großspurig wie einfallslos nach internationalen Metropolen benannt worden: Mailänder Platz, Pariser Platz, Moskauer Straße… Es ist jene Art von Stadtplanung, wie sie für das Großprojekt S21 typisch ist: an den Bürgern vorbei ins Pseudomondäne. Man könnte sie – anders als beim Wäschehaken – als Oberflächenveredelung im negativen Sinne bezeichnen; als die Schaffung massiver Einheitsarchitekturen, von unübersehbarer Penetranz.

Doch der Versuch, das Prinzip des Scheins aus der Sphäre des Symbolischen, aus der es stammt, auf die politisch-konkrete Wirklichkeit anzuwenden, ist zum Scheitern verurteilt – das hat nicht zuletzt die Zeit des Nationalsozialismus gezeigt: Zwar wurde der Plan der Nazis, Berlin zur Hauptstadt „Germania“ umzubauen, nie realisiert, so dass sich schwerlich sagen lässt, was dies für Folgen gezeitigt hätte – dafür war die NS-Herrschaft schlicht zu (selbst)zerstörerisch und deshalb zu kurz. Doch verfiel man dafür während des 2. Weltkriegs auf die Idee, Attrappenstädte zu errichten, um die alliierten Bomber von ihren anvisierten Angriffszielen abzulenken. So baute man beispielsweise bei Lauffen am Neckar ein falsches Stuttgart nach, in der Hoffnung, die Landeshauptstadt möge dadurch von Luftangriffen verschont bleiben (insbesondere fertigte man aufgrund von dessen charakteristischer Form eine Attrappe des Stuttgarter Hauptbahnhofs an). Genützt hat dies alles nichts, im Gegenteil: bombardiert wurden schlussendlich beide Städte.. Diese so genannte „Scheinanalage“ hatte man übrigens einen exotischen Decknamen verpasst: Sie wurde vom Luftgaukommando auf den Namen „Brasilien“ getauft und trug damit ausgerechnet den Namen eines Landes, das knapp 20 Jahre später eine am Reißbrett entworfene Hauptstadt mitten im Dschungel erhalten sollte, die bis heute im Schatten der Metropolen Rio und Sao Paolo steht und so als Beweis dafür gelten kann, dass sich „Bedeutung“ eben nicht von oben verordnen lässt. Ähnlich wie bei Brasilia - das aber zumindest noch ein Projekt der radikalen Moderne war - wird bei der neuen Form des Stuttgarter Bauens, als deren Grundprinzip Bauer übrigens den Würfel als universelles Symbol des Spekulantentums identifiziert, unter konsequenter Missachtungen lokaler Besonderheiten eine natürlich gewachsene Umgebung zerstört, indem abgerissen, geglättet und eingestampft wird, was vielleicht noch am ehesten wirklich „von Bedeutung“ ist. Denn die Orte, die vom kollektiven Gedächtnis einer Stadt aufgespeichert werden, sind paradoxerweise gerade die vergessenen, unbeachteten, irgendwie zufällig übrig gebliebenen. So betrachtet ist die pseudofuturistische Architektur von Stuttgart 21 eigentlich genauso geschichtsvergessen und reaktionär wie etwa der Berliner Plan, das dortige Stadtschloss wieder aufzubauen - die Idee also, an der Stelle des Regierungsgebäudes einer unliebsam gewordenen Epoche ein Remake toter, absolutistischer Herrschaft zu errichten. Man könnte das auch so ausdrücken: Wer lieber Tatsachen schafft, als sie zu deuten, ist dadurch nicht zwangsläufig Realist, und Visionär schon gar nicht. Es kann einem dabei, ganz im Gegenteil, der Sinn für die Wirklichkeit ganz verloren gehen.

Der Sinn für die Wirklichkeit scheint auch den Protagonisten eines „ganz realen“ Dialogs abhandengekommen zu sein, aus dem der Historiker und Verfasser des Buchs „Joseph Süß Oppenheimer genannt Jud Süß“, Hellmuth G. Haasis, zum Abschluss der Veranstaltung einige Passagen zum Besten gibt. Es handelt sich um ein digitales Gespräch zwischen zwei Neonazis auf einer einschlägigen Website, die Haasis verdächtigen, ein Mossad-Agent zu sein, der mutmaßlich mit der Aufgabe betraut sei, die Person Süß-Oppenheimers „reinzuwaschen“. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Präsenz einer Waschküche auf einer ehemaligen Hinrichtungsstätte wohl eher an Max Frischs Drama „Andorra“ denken lässt, dessen Protagonisten durch das permanente „Weißeln“ ihrer Häuser ihre Verstrickungen in den Faschismus übertünchen möchten.
Doch nochmal zurück zum Würfel und zu Berlin: Unweit der Waschküche, in der Nordbahnhofstraße, befindet sich anstelle der ehemaligen Eisenbahnerkneipe „Frische Quelle“ ein vor noch nicht allzu langer Zeit eröffnetes Bistro, in das einige der Aktivisten des Waschküchenevents abends noch einkehren und das sich „Café Einstein“ nennt. Man ist sofort geneigt, dies im Sinne der These von Stuttgart als Möchtegernmetropole zu interpretieren, aber der Schein trügt. Die Goldfarbe, die hier die Wände ziert, vor denen überdies seltsam ägyptoide Objekte aufgebaut sind, ist mit der Sprühdose angebracht; statt Politiker und Lobbyisten - wie in dem renommierten Berliner Etablissement gleichen Namens -scheinen sich im Stuttgarter „Café Einstein“, das von einem Kurden geführt wird, Leute aller Altersklassen und jeglicher sozialer und geografischer Herkunft zu treffen. Heute hat sich eine besondere Menge vor der Tür versammelt. Ihnen geht es nicht, wie zunächst angenommen, um das „neue Stuttgart“, sondern darum, „neu in Stuttgart“ zu sein, um Austausch also, dezentral und selbstorganisiert via Facebook. Dass es solche Treffen gibt und noch dazu in einer solchen Gegend, in einer solchen Kneipe, ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen: denn die wirklich wünschenswerten, das heißt produktiven Veränderungen kommen in der Regel weder von unten noch von oben, sondern gewissermaßen „von der Seite“, mithin aus einer Richtung, aus der man sie nicht erwartet.

Abschreckung und Machtdemonstration waren wohl die Motive der Interimsregierung, welche anno 1738, nach dem überraschenden Tod von Herzog Karl Alexander von Württemberg, dessen Hoffaktor erdrosseln ließ. Dem entsprechenden Urteil lagen weder Beweise zu Grunde, noch wurde eine Urteilsbegründung verlesen. Sechs Jahre lang hing der Leichnam des Justizopfers Joseph Süß Oppenheimer in einem eisernen, rot lackierten Käfig über der Stadt.

Über 200 Jahre später wurde in der neu gegründeten Bundesrepublik das Recht des Staates seinen BürgerInnen unter bestimmten Umständen das Leben zu nehmen abgeschafft — wenn auch gegen die Stimmen der Christlich Demokratischen Union. Das Recht von Eltern auf körperliche Züchtigung ihrer Kinder hatte dagegen noch bis ins Jahr 2000 bestand.

In dem kürzlich erschienenen Buch von Ingrid Müller-Münch “Die geprügelte Generation”, über das Kind-Sein in den 50er Jahren, ist zu lesen:

Sonja … kann mir noch nach all den Jahrzehnten genau beschreiben, wie so ein Rohrstock eigentlich aussah: »Er ist mehr als einen halben Meter lang, dünn, aus Rohr oder Bambus.«
…
Das Ritual der Misshandlung spielte sich immer gleich ab. Die Mutter sagte, wenn etwas schief gegangen war: »Du weißt ja, was jetzt passiert. Hol schon mal den Rohrstock.« …

Nach wie vor ist unsere Welt eine von durch Zwang konstituierten Subjekten erschaffene. Die fortschreitende Verfeinerung der Mittel, mit deren Hilfe Hierarchien erzeugt und aufrecht erhalten werden, vom alltäglichen Monitoring bis zur saloppen Ritalin-Verabreichung, schließt eine Regression hin zu “alt bewährten” Disziplinierungsmaßnahmen nicht aus.

Unter dem Slogan “Es gibt sie noch, die guten Dinge”, vertreibt der Otto-Konzern, der nur wenige hundert Meter von Oppenheimers Hinrichtungsstätte entfernt gerade 43.000 qm neue Shopping-Fläche errichten lässt, Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Deren besondere Qualität und Nachhaltigkeit wird einer liquiden retro-alternativen KäuferInnenschicht durch gravitätische Produktbeschreibungen angetragen. Im Sortiment von “Manufactum” findet sich denn auch ein besonders trauriges Beispiel zivilisatorischen Rückfalls, ein Rohrstock nämlich:

Der Rohrstock

Die Jahre libertären Experimentierens ausgenommen, gehört der Rohrstock seit alters her zum Instrumentarium guter Erziehung.
Er schafft die notwendige Distanz zum Zögling und ist in seiner Symbolik eindeutig, weshalb verantwortungsvolle Eltern und Pädagogen niemals mit der bloßen Hand züchtigen sollten.

Produktinformation

Dieses Exemplar ist aus nachhaltig angebautem Bambusa Arundinacea geschnitten.
Das Rundleder der Hängeschlaufe stammt aus westfälischer Erzeugung.


Es gibt sie noch…

Ein Spielzeugkran steht auf dem Dach der Mangelstube.
Aufstieg des Zimmermanns, einen Korb tragend, auf das Dach 
über eine Leiter an der Rückseite des Gebäudes.

Zimmermann tritt auf und hockt sich zur Fernbedienung des Krans.
Er bedient den Hebel zum seitlichen Schwenken des Krans und erzeugt so eine Drehbewegung, die er mehrfach durchführt bis der Kran für das Publikum wieder in seiner vollen Breite zu sehen ist.
Anschließend bedient er den Hebel für die lotrechte Bewegung des Hakens – nach unten – nach oben … der Arm des Krans fällt nach unten.

Der Zimmermann steht auf und nimmt einen kleinen geschmückten Modellbaum, den er auf dem Kran befestigt.
Er stellt eine Flasche Wein und ein Glas parat.
Er holt einen Zettel und trägt seinen Richt-Spruch vor; an den passenden Stellen füllt er sein Weinglas und trinkt beherzt.
Er wirft er das Glas vor sich herunter, so dass es zerschmettert, bekommt Beifall und verlässt das Dach in derselben Richtung wie 
zu Anfang.

Ein künstlerischer Abend in der Heißmangelstube

von Karoline Walter



Weil Joseph Süß Oppenheimer, Finanzberater des württembergischen Herzogs Karl Alexander, versucht hatte, aus nichts etwas zu machen (nämlich Geld durch Geldhandel, Münzprägung und neu generierte Steuerarten), wurde er 1738 am so genannten Alchemistengalgen erhängt. Der Alchemistengalgen war eine symbolische Schauarchitektur, die ihre Opfer verhöhnen und bloßstellen sollte. Mit seinen vergoldeten Spitzen, unter denen sich Streben aus Eisen verbargen, sollte er eigentlich jenen Traumtänzern die Ordnung der Dinge demonstrieren, die behaupteten, Eisen in Gold umwandeln zu können – ein Vergehen wider die Natur, mit dem man die Wirtschaftspolitik Oppenheimers offensichtlich vergleichbar fand: Im modernen Geldmacher sollte der alte Goldmacher entlarvt werden, im Finanzgenie der ewige Jude. Mit seinen 12 Metern Höhe überragte der auf einem Hügel errichtete Galgen seine damals noch unbebaute Umgebung – wer zu Lebzeiten hoch stapelte, sollte sich schließlich auch in aller Höhe das Genick brechen – und zog damit auf eine Weise die Aufmerksamkeit auf sich, wie sonst höchstens Kathedralen, Wallfahrtskapellen oder jene barocken Schlösser, durch die sich Oppenheimer zu seinen Lebzeiten bewegt hatte. Am Galgen hängend war er dagegen in einen Vogelkäfig eingesperrt, dessen rot gestrichene, rippenartige Gitterstäbe die Blicke auf sich zogen und die damit, anders als die Wände und Fassaden eines Hauses, niemanden schützen oder verstecken konnten, sondern den in ihm Gefangenen buchstäblich bis auf die Knochen exponierte: Der Galgen mit der sich im Vogelkäfig befindlichen Leichnam Oppenheimers verblieb sechs Jahre lang an Ort und Stelle, bevor man die Gebeine Oppenheimers 1744 schließlich verscharrte.

Der Zufall wollte es, dass sich dort, wo einst der Alchemistengalgen stand, heute eine Waschküche befindet, also ein Ort vollkommen gegensätzlicher Art: Der auf dem mittlerweile abgeflachten Galgenbuckel errichtete Bau ist im besten Sinne des Wortes bedeutungslos. Weil der Daseinszweck einer Waschküche durch ihre Funktion hinreichend geklärt zu sein scheint, hat sie keine weiteren Botschaften zu verbreiten. Wohl nicht zuletzt das macht sie zu einem Raum, in dem es sich aushalten lässt. Sie besitzt Wände, ein Dach und folglich ein Inneres, in dem Waschmaschinen, Trockner und Heißmangeln Dampf und feuchte Wärme verbreiten. Während merkantilistische Wirtschaftsreformversuche offenbar das Risiko bargen, am Alchemistengalgen zu enden, steht die in den 1950er Jahren erbaute Waschküche für eine pragmatische Weise, mit Makeln und Mangelwirtschaft umzugehen. Man kann hier bis heute nicht bloß seine schmutzige Wäsche waschen, sondern seine Leintücher und Tischdecken anschließend auch noch zwischen die Walzen einer Bügelmaschine schieben. Die auf diese Weise gestreckten und geglätteten Stoffe eignen sich hervorragend dazu, Dinge zu verdecken, deren Mängel sich nicht so einfach auswaschen lassen wie Flecken aus Textilien – etwa vermackte und hässliche Tischplatten.

Dass sich mit weißen Tischdecken selbst abgenutzteste Tische aufwerten lassen, durften am 24.11.2014 auch einige Gäste erfahren, die in der Heißmangelstube zu einem festlichen Abendessen geladen waren, bei dem die Künstler Susanne Kudielka und Kaspar Wimberley Linsen und Spätzle zubereiteten. Ganz im Klaren darüber, was ihnen da aufgetischt wurde, konnten sich die Besucher allerdings nicht sein, denn das Essen fand mehr oder weniger im Dunkeln statt. Die mit Flecken übersäten Tischtücher wurden anschließend jener Art von Verwandlungswundern unterzogen, wie sie in einer Waschküche jeden Tag stattfinden und die trotzdem oder gerade deshalb nicht im Geringsten an die Ewigkeit denken lassen. Sie wurden gewaschen und gemangelt, bis sie schließlich wieder ihren blütenreinen und faltenfreien Ursprungszustand angenommen hatten und nun in fotografierter Form die Räume der Waschküche zieren.

Allerdings können Leintücher, ebenso wie andere Dinge mit heller Oberfläche, nicht nur Sichtbares unsichtbar machen, sondern bisweilen auch Unsichtbares sichtbar. Das weiß jeder, der als Kind einmal seinen Kopf unter ein Bettlaken gesteckt hat, um Gespenst zu spielen. Die Gäste, die an besagtem Abend in der Dunkelheit der Waschküche ihr Essen nicht sahen, konnten sich im Nachhinein anhand der Spuren auf ihren Tischdecken vergewissern, dass es tatsächlich Linsen und Spätzle gewesen waren, die man ihnen vorgesetzt hatte. Dass Stoff und Licht Erscheinungen von flüchtigem Charakter dingfest machen können, gilt bisweilen aber auch für schwerer verdauliche Wahrheiten.

Der Atomblitz der Bombe, die am 9. August 1945 die japanische Stadt Hiroshima zerstörte, löste menschliche Körper buchstäblich in Luft auf, brannte dafür aber ihre Schatten auf Mauern und Häuserwänden ein, indem er die von den Körpern unverdeckten, sonnenbeschienenen Stellen dauerhaft ausbleichte. Auch die Stadt Stuttgart wurde im Zweiten Weltkrieg bombardiert, allerdings nicht durch eine Atombombe, sondern durch die Spreng- und Brandbomben der alliierten Luftstreitkräfte, so auch das Stuttgarter Nordbahnhofviertel.

Anders als in Japan erinnern bei uns, wenn überhaupt, nur gewöhnliche Fotografien an den Krieg und seine Opfer; bei historisch noch weiter zurückliegenden Ereignissen, wie beispielsweise der Hinrichtung Oppenheimers, sind es nur noch ein paar Kupferstiche. Solche Bilder können verloren gehen oder bisweilen gar als Fälschungen abgetan werden, so dass die Ereignisse, von denen sie zeugen, allzu schnell in Vergessenheit geraten.

Die Bilder, mit denen der Stuttgarter Künstler Andreas Bär die in der Waschküche speisenden Gäste behelligte, waren dagegen darauf angelegt, nachzuwirken. Der auf einem Wäschetrockner platzierte Diaprojektor war auf eine phosphoreszierende Leinwand gerichtet, so dass sich die von der unmittelbaren Umgebung des Galgenbuckels handelnden Bilder mehr und mehr überlagerten und in jedem neuen Bild gleichsam die Spuren der vorigen manifest werden konnten. „Ich muss es ans Licht bringen“ war bezeichnenderweise der erste Satz, den der Künstler per Dia an die lichtspeichernde Leinwand projizierte, so dass er anschließend im Dunkeln weiterleuchtete. Während der „Nachleuchtphase“ der (Satz)Bilder wurden mit einer Taschenlampe Manipulationen auf der Leinwand vorgenommen: Bildelemente hervorgehoben, Zeichnungen eingefügt oder weitere Texte in die Leinwand eingeschrieben, wie beispielsweise Zitate über die nachhaltige Wirkung von Kunst, die Zuschreibung von Werten und darüber, warum ein stiller Bürger ein schlechter ist, bzw. was eigentlich „Anteilnahme“ bedeutet. Heute vielleicht: sich politisch zu engagieren oder in Gedenkdiskurse einzustimmen, im 18. Jahrhundert möglicherweise, einer Hinrichtung beizuwohnen – oder war die Totenstille eines Gehenkten selbst ein Zeichen dafür, dass er ein schlechter Bürger gewesen sein muss? Begleitend wurde ein Bild von der Hinrichtung Oppenheimers gezeigt. Auch ein japanischer Galgenhügel aus einem Manga-Comic, Gedenk-Stolpersteine mit Müllsäcken daneben sowie das CD-Cover der Psychedelic-Rock-Band „The Flying Eyes“, das einen Totenschädel mit Rabenaugen und Käfernase zeigte, waren zu sehen. Aufnahmen des Einkaufszentrums Milaneo, das im Zuge der Umgestaltung des ehemaligen Güterbahnhofsareals entstand, ließ an die typische Stuttgarter Art der Stadtpolitik denken, die vermeintlich Störendes gerne dem Erdboden gleichmacht oder gleich unter der Erde verschwinden lässt (zum Beispiel altgewordene Kopfbahnhöfe oder durch die Innenstadt verlaufende Bäche).

Anders als die Zeitgenossen Oppenheimers halten wir es heute nicht für unmöglich, aus nichts etwas zu machen. Als einen eindrücklichen Versuch einer creatio ex nihilo kann man beispielsweise den Wiederaufbau der deutschen Städte nach dem Krieg betrachten. Gegenüber den Ruinen des 1944 zerstörten Martinsviertels errichtete man Anfang der 1950er Jahre gemeinsam mit der besagten Waschküche vier Hochhäuser, die den Galgenbuckel so eng umschließen, dass er von deren oberen Stockwerken aus betrachtet nicht mehr wie ein Hügel wirkt, sondern eher wie eine Senke erscheint. Man kann dies als eine Art topgrafische Illustration der Tatsache betrachten, dass Dinge grundlegend wandelbar sind; eine Einsicht, die sich heute universell durchgesetzt hat. Auf Stoffliches bezogen nennt sie sich Chemie und hat unser Leben entschieden erleichtert. Als ihren geistigen Ausdruck könnte man den Relativismus betrachten, also die Idee, dass es keine absoluten und unveränderlichen Wahrheiten gibt und dessen häufige Nebenwirkung eine Art Geschichtsvergessenheit ist. Dieser allgemeinen Geschichtsvergessenheit entgegenzuwirken, mag die Motivation einiger Künstler gewesen sein, die Stuttgarter an eine ihrer vergessenen Geschichten zu erinnern, bevor der Galgenbuckel im Zuge der mit Stuttgart 21 zusammenhängenden Umbau- und Umstrukturierungsmaßnahmen vollends ins Abseits gerät. Die Waschküche eignet sich dafür wohl nicht zuletzt deshalb besonders gut, weil sie so etwas wie das Gegenteil eines Denkmals ist. Über Denkmale (bzw. Denkmäler) schrieb der österreichische Schriftsteller Robert Musil einmal, dass sie in Wirklichkeit nicht dazu dienten, an bedeutende Ereignisse zu erinnern, sondern dazu, diese zu vergessen. So als habe man die Gedenk- und damit auch die Denkarbeit mit der Herstellung des Denkmals zugleich an dieses outgesourct. Für eine solche Art der moralisch-intellektuellen Dienstleistung wäre ein Ort wie die Waschküche jedenfalls vollkommen ungeeignet, denn rein gar nichts an ihr lässt darauf schließen, dass sich hier überhaupt jemals etwas von Bedeutung ereignet hat. Und das ist vielleicht gerade gut so.